Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Sebag Montefiore "Wir sind in größerer Gefahr als jemals zuvor"
Krieg in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten, die Weltgeschichte spitzt sich dramatisch zu. Historiker Simon Sebag Montefiore erklärt, wie bedrohlich die Lage ist – und weshalb er trotzdem optimistisch bleibt.
Kriege führt die Menschheit seit Urzeiten, allerdings war das Zerstörungspotenzial niemals so groß wie heute. Russland unter Wladimir Putin droht unentwegt mit seinen Atomwaffen, um den Westen angesichts des Krieges gegen die Ukraine einzuschüchtern. Als "Laboratorium mörderischer Erfindungen" charakterisiert Simon Sebag Montefiore, einer der erfolgreichsten Historiker unserer Zeit, diesen Konflikt.
Der Brite weiß, worüber er spricht: Gerade hat er mit "Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit" eine Weltgeschichte veröffentlicht, die unsere Geschichte anhand von Familien erzählt. Warum die nordkoreanische Tyrannen-Dynastie Kim Jong-uns "erfolgreicher" sei als die des Eroberers Dschingis Khan, weshalb Wladimir Putin russisches Roulette spiele und was die einzige Lösung des Nahostkonflikts wäre, erklärt Sebag Montefiore im Gespräch.
t-online: Herr Sebag Montefiore, Sie haben eine Geschichte der Welt zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, an dem Wladimir Putin die globale Ordnung offen infrage stellt. Ärgert Sie das?
Simon Sebag Montefiore: Warum sollte es das?
Weil Ihr Buch so an einem äußerst dramatischen Punkt der Weltgeschichte endet – ohne dass Sie das Ergebnis kennen. Ist das nicht frustrierend?
Auf gewisse Weise, ja. Nun ist eine Tatsache unumstößlich – und zwar, dass die Geschichte niemals endet. Deswegen musste ich irgendwann innehalten und mein Buch veröffentlichen. Die russische Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 ist aber ohne Zweifel ein Ereignis von historischer Bedeutung. Denn sie hat einen Frieden von sieben Jahrzehnten beendet – das ist das Ergebnis von Putins kaltherziger Grausamkeit. Und in gewisser Weise die Rückkehr zu einer Art von Normalität, wie sie viele der Diktatoren, Kriegsherren und Monarchen, die ich in meinem Buch beschreibe, als Routine ansehen würden.
Rund 1.500 Seiten umfasst die deutsche Ausgabe von "Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit". Wie haben Sie das geschafft?
Das Projekt hat mich fast um den Verstand gebracht. So viele Geschichten, so viele Bücher, die man dafür lesen muss! Ich habe ganze Nächte wach gelegen, weil ich darüber nachdachte, wie ich die verschiedenen Probleme eines solchen Unternehmens in den Griff bekommen könnte.
Nun sind Sie als Autor zahlreicher historischer Sachbücher alles andere als unbewandert.
Ich kenne mich in russischer Geschichte aus, weiß um die Historie Jerusalems – und auch in anderen Bereichen bin ich kundig. Aber eine Weltgeschichte, die den Namen verdient, geht weit darüber hinaus. Schwierig war es insbesondere bei Kulturen, über die ich bis dahin nicht so viel gelesen hatte. Die Mayas und Inkas in Südamerika, aber auch die Komantschen in Nordamerika, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Schließlich habe ich ausgewiesene Experten die entsprechenden Kapitel prüfen lassen.
Simon Sebag Montefiore, Jahrgang 1965, ist Historiker und Journalist. Der Brite ist preisgekrönter Autor zahlreicher internationaler Bestseller, darunter "Stalin. Am Hof des roten Zaren", "Jerusalem. Die Biographie" oder "Die Romanows. Glanz und Untergang der Zaren-Dynastie 1613–1918". Kürzlich erschien Montefiores neuestes Werk "Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit".
Warum musste es aber überhaupt eine Weltgeschichte sein?
Ich liebe Weltgeschichten. Nur sind die bisherigen immer recht weit von den Menschen entfernt. Da können Sie einen Klassiker wie Arnold J. Toynbees "Der Gang der Weltgeschichte" bis hin zu einem aktuellen Werk wie Yuval Noah Hararis "Eine kurze Geschichte der Menschheit" als Beispiel heranziehen. Zwar handeln diese Bücher von Menschen, sie sind aber nicht nah an ihnen dran. Das wollte ich anders machen.
Womit die Familien ins Spiel kommen, anhand derer Sie die Geschichte von Jahrtausenden erzählen?
So ist es. Ähnlich habe ich es schon in meinen Büchern über Jerusalem oder die Romanows gehandhabt. Die Idee ist eigentlich auch bestechend, denn die Familie ist die Grundeinheit menschlicher Existenz – und wird es vermutlich auch immer bleiben. Mein Ansatz war es, die Spannweite der Weltgeschichte mit der Intimität einer Biografie zu verbinden. Ist mir das gelungen? Dieses Urteil gebührt meinen Lesern, aber ich habe mein Bestes gegeben.
Nun sind Familien sowohl als Basis für Harmonie, Stabilität und dynastischen Erhalt bekannt, als auch berüchtigt für Streit, Missgunst bis hin zum Mord.
Das macht die Sache so spannend. Es gab Mütter, Väter und Geschwister, die der eigenen Familie in Zuneigung und Loyalität ergeben waren. Aber wir haben auch zahlreiche Beispiele für mörderische Untaten: Wie den antiken ägyptischen Herrscher Ptolemaios VIII., der den eigenen Sohn zerstückeln und die Teile an dessen Mutter schicken ließ. In der Gegenwart geht es auch nicht unbedingt humaner zu, Nordkoreas Diktator Kim Jong-un ließ seinen Bruder mittels eines Nervengifts aus dem Weg räumen, inszeniert wie eine Fernsehshow mit versteckter Kamera. Als eine Art Scherz der grausamsten Art.
Russland unter Wladimir Putin schlägt wiederum mit dem Nervengift Nowitschok zu, wie der Fall von Alexej Nawalny demonstriert.
Wladimir Putin ist ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich Geschichte wahrgenommen werden kann. Viele Leute sagen, dass Putin nur ein weiterer Repräsentant eines weiteren imperialistischen Regimes sei. Andere sagen wiederum, dass Putin so eine Art neuer Stalin sein wolle. Aber wissen Sie was? Beide Ansichten sind wahr.
Damit sind wir bei der Frage angelangt, ob sich Geschichte wiederholt. Seit Putins Angriff auf die Ukraine im vergangenen Jahr und dem derzeit auflodernden Antisemitismus wird darüber verstärkt debattiert.
Die Geschichte verläuft nicht zyklisch, sie endet einfach nur niemals. In jeder Phase der Geschichte gibt es neue Entwicklungen, die einzigartig für diese Zeit sind. Was aber nicht bedeutet, dass sie nicht zu anderen Zeiten eine Rolle spielen können. Nehmen wir Wladimir Putin: Er vereint die imperialistische Weltanschauung der Zaren aus der Dynastie der Romanows vor dem Hintergrund des Untergangs der Sowjetunion. Dieses Ereignis hat er niemals verkraftet. Das Regime nutzt das moderne Internet wiederum wie klassische Einrichtungen der Überwachung in Form einer Geheimpolizei, wie es bereits das Zarenreich praktiziert hat.
Die gegenwärtige Situation an der Front in der Ukraine ähnelt wiederum dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg an der Westfront.
Es handelt sich um eine Mischung aus "Im Westen nichts Neues" und "Star Wars". Dieser Krieg in den Schützengräben wird einerseits mit Maschinengewehren und Artillerie geführt, andererseits mit Drohnen, Überschallraketen und Satelliten. Er ist ein Laboratorium mörderischer Erfindungen – wie alle Kriege vor ihm. Möglicherweise ist das ukrainische Blutbad auch nur ein Vorspiel, falls China und die USA einen Konflikt der Superlative führen sollten.
Wie schätzen Sie die Figur Putin historisch ein?
Putin spielt typisches russisches Roulette, er will Ein-Mann-Herrscher sein. Tatsächlich ist er aber sehr isoliert. Probleme glaubt Putin mit Gewalt lösen zu können, Verluste lassen ihn unbeeindruckt. So etwas ihm egal. Auch will er ein großer Oberbefehlshaber sein, allerdings ist er auf diesem Gebiet völlig untalentiert. Insofern ist Putin in vielerlei Hinsicht ein recht typischer russischer Herrscher, wenn er und sein Regime auch eine neue Erscheinung sind.
Kommen wir auf Ihr Buch zurück. Wie haben Sie entschieden, was auf den 1.500 Seiten näher beschrieben wird?
Bestimme Ereignisse und Personen sind von vornherein gesetzt. Die großen Schurken der Weltgeschichte wie ein Adolf Hitler müssen auftreten – damit man sie auseinandernehmen kann. Dieses Schicksal droht auch Putin. Dann darf selbstverständlich weder ein Jesus von Nazareth noch ein Prophet Mohammed fehlen, ebenso wie ein Wolfgang Amadeus Mozart. Helmut Kohl und die Deutsche Wiedervereinigung sind bedeutend, auch ein Michail Gorbatschow.
Allerdings haben Sie den historischen Blick über den westlichen Horizont geweitet?
Das war mein Anspruch. So erfahren Sie im Buch etwa viel über das afrikanische Königreich von Benin. Ebenso wie bei Europa musste ich allerdings immer wieder eine Auswahl treffen. Für den Raum Südostasien hätte ich ebenso viel zu Vietnam, Thailand oder Kambodscha schreiben können, ich habe dann letzteres gewählt. Das gleiche Spiel in Nordamerika, wo ich mich unter den vielen Nationen der Ureinwohner für die Komantschen entschieden habe.
Nun könnte man Ihnen aus Vietnam Vorwürfe machen.
Damit muss ich leben. Aber ich habe stets aus guten Gründen entschieden. So kommen im Buch die großen Revolutionen wie etwa die Amerikanische oder die Französische vor. Aber wussten Sie, dass es 1791 zu einer weiteren Revolution gekommen ist, die viel zu wenig von der Weltgeschichte beachtet worden ist?
Sie spielen auf die Haitianische Revolution in der damaligen französischen Kolonie an?
Genau. Sie führte später zur Gründung der ersten unabhängigen Nation Lateinamerikas und der Karibik, der zweiten Republik Amerikas nach den USA, dem ersten amerikanischen Staat, der die Sklaverei abschaffte, sowie der einzigen Nation, die durch einen Sklavenaufstand gegründet wurde. Sie sehen: Mein Buch soll unterhaltsam sein, aber zugleich überraschen. Und nicht zuletzt mit Klischees aufräumen. Wenn wir zum Beispiel an Afghanistan denken, landet man schnell bei Taliban und Bürgerkrieg. Das Land gilt als Friedhof der Imperien, weil Briten, Sowjets und Amerikaner daran gescheitert sind. Weniger bekannt ist, dass Afghanistan unter der Familie Durrani im 18. Jahrhundert ein großes Reich gebildet hatte, zu dem etwa das westliche Indien gehörte.
Wo wir wieder bei Familien sind: Welche betrachten Sie als die erfolgreichste der Weltgeschichte?
Das ist eine schwierige Frage. Die Dynastie der Habsburger beherrschte lange Zeit ein großes Reich, im modernen Amerika sind die Kennedys und die Familie Bush überaus einflussreich gewesen. Die Familie des mongolischen Eroberers Dschingis Khan ist an dieser Stelle auch zu nennen. Aber die mächtigste Familie der Weltgeschichte sind insgesamt gesehen weder die Habsburger noch die Dynastie des Dschingis Khan, sondern es handelt sich um die heutigen Kims in Nordkorea. Sie sind die einzige Dynastie, die über ein eigenes Atomwaffenarsenal verfügt.
Nun haben wir viel über Männer gesprochen. Wie verhält es sich mit den Frauen in der Weltgeschichte?
Sie sind überaus wichtig – und kommen bei mir auf keinen Fall zu kurz. So Kleopatra, Katharina die Große und Margret Thatcher, aber auch Frauen, von den selbst Geschichtsinteressierte nicht unbedingt gehört haben werden. Ich will nicht zu viel versprechen, aber die Leute wären überrascht angesichts der Tatsache, wie viele Frauen in muslimischen Ländern regiert haben.
Sie haben sich intensiv mit der Geschichte Jerusalems und Palästinas beschäftigt, nach der Attacke der Terrorgruppe Hamas auf Israel herrscht wieder Krieg im Nahen Osten: Sehen Sie einen Weg für einen irgendwie gearteten Frieden?
Die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern sind seit langer Zeit vergiftet. Wir werden gerade daran erinnert, dass wir die Notlage der Palästinenser nicht vergessen dürfen – und dass es einen Weg zu einem palästinensischen Staat geben muss. Ich trauere um die am 7. Oktober ermordeten Israelis ebenso wie um die nun im Krieg getöteten palästinensischen Zivilisten. Israel hat das Recht zu existieren, seine Menschen haben das Recht, sicher zu leben. Auch die Palästinenser haben ein Recht auf einen Staat und auch sie haben das Recht, sicher zu leben. Aber beide Seiten müssen Kompromisse eingehen. Schließlich handelt es sich um zwei Völker mit einer langen Geschichte, die jeweils Ansprüche auf das Land begründen. Zwei Staaten sind einfach der einzige Weg.
Wie soll aber dieser Weg aussehen?
Alles, was passiert ist und noch passieren wird, kann zu einem derart großen Schock führen, dass Verhandlungen möglich werden. Allerdings ist die Führung beider Seiten miserabel. In Israel haben wir die Koalition unter Benjamin Netanjahu, es ist die schlimmste Regierung, die Israel jemals hatte. Bei den Palästinensern haben wir einmal die Hamas, die sich selbst mit ihrem Terror gegen israelische Zivilisten außerhalb der Grenzen der Zivilisation gestellt hat. Dann noch die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, die korrupt und inkompetent zugleich ist. Es braucht also eine bessere Führung auf beiden Seiten – hoffen wir das Beste!
Ist das aber realistisch?
Der Weg hin zu zwei Staaten wird schwierig sein. Die USA und Saudi-Arabien müssen dabei anleiten und unterstützen. Vor allem müssen aber neue Führer gefunden werden: Die Hamas gehört auseinandergejagt und zerstört, Benjamin Netanjahu und seine Minister, die allesamt unfähig, verachtenswert und ungeschickt sind, müssen gehen. Die Palästinensische Autonomiebehörde wiederum muss erneut gestärkt werden, während die israelischen messianischen Siedler und Siedlungen im Westjordanland entfernt werden müssen. Es muss ein Prozess eingeleitet werden, der die mutigsten, aber auch gemäßigsten israelischen und palästinensischen Führer benötigt, um den Weg zum Frieden zu finden.
Hat Sie jemals der Optimismus verlassen – beim Schreiben Ihres Buches und angesichts der aktuellen Ereignisse?
Das Gefühl nahenden Untergangs scheint ein Teil der menschlichen Natur zu sein. Allerdings habe ich auch viel über Fortschritte in meinem Buch geschrieben, Entwicklungen, die der Menschheit wirklich genutzt haben. Wahr ist aber auch, dass wir in größerer Gefahr sind als jemals zuvor. Das liegt zum Teil an unseren Handlungen und an unserer angestrebten Beherrschung des Planeten. Wir haben die Klimakrise heraufbeschworen, dazu Atomwaffen gebaut und intelligente Technologien geschaffen – das ist extrem gefährlich. Aber grundsätzlich bin ich optimistisch, dass sich die Vernunft durchsetzen wird.
Eine letzte Frage: Welche Zeit und welcher Ort haben Sie in Ihrer Weltgeschichte am meisten fasziniert?
Ich hätte gerne im Bagdad des neunten Jahrhunderts gelebt, der Hauptstadt der großen Kalifen Hārūn ar-Raschīd und al-Ma'mūn. Es war eine Zeit der größten Errungenschaften der arabischen Gesellschaft – und ich liebe arabische Kultur und Poesie.
Herr Sebag Montefiore, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Simon Sebag Montefiore via Videokonferenz