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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Wir verändern die Wolken" Wenn Umweltschutz zum Klimaproblem wird
Der Nordatlantik ist zu warm, das hat auch bei uns Folgen. Die Ursache ist unklar – doch könnte paradoxerweise an einer Maßnahme liegen, die eigentlich die Umwelt schützen soll.
Der Nordatlantik ist so warm wie noch nie seit Beginn der Messungen – und das schon seit März. Die Temperatur an der Wasseroberfläche liegt aktuell bei mehr als 25 Grad, normal wären knapp unter 24 Grad. Intensität, Zeitpunkt und Ausdehnung der Entwicklung – eigentlich überraschte Experten fast alles an der Anomalie. Warum genau das Wasser so warm ist, ist unklar. Womöglich überlagern sich zusätzlich zur Klimakrise weitere Effekte.
Einer von ihnen erscheint dabei besonders paradox: Ausgerechnet eine Umweltschutzmaßnahme könnte die Temperaturen mit in die Höhe getrieben haben.
90 Prozent der durch den Menschen verursachten, zusätzlichen Hitze wird durch die Ozeane aufgenommen. Hauptfaktor der Erhitzung im Nordatlantik dürfte damit die Klimakrise sein – 2023 fielen bereits etliche Rekorde auch bei der Lufttemperatur. Im Schnitt haben sich die oberen Schichten der Ozeane bereits um 0,9 Grad erhitzt. Der Nordatlantik galt allerdings als Ausnahme und relativ kühl – bis jetzt.
Experten wiesen dabei schon früh auf einen zeitlichen Zusammenhang hin: Im Jahr 2020 nahm das internationale Transportgeschehen aufgrund der Pandemie ohnehin ab. Gleichzeitig traten neue Regeln der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) der Vereinten Nationen in Kraft. In Schiffstreibstoffen dürfen seitdem statt 3,5 Prozent nur noch 0,5 Prozent Schwefel enthalten sein. Die Folge: Die Schwefelemissionen der Schifffahrt sanken um rund 70 Prozent, die globalen Gesamtemissionen von Schwefel um 10 Prozent.
Für Umwelt und Gesundheit sind das erst einmal gute Nachrichten: Vor allem an den Küsten und in den Hafenstädten bedeuten die geringeren Emissionen sauberere Luft.
Schwefel in der Atmosphäre kühlt die Erde
Für das Klima könnte aber ausgerechnet das ein Problem sein: Aus Schwefel entstehen in der Atmosphäre Aerosole, die zum einen Sonnenlicht direkt reflektieren, und an denen andererseits Wasserdampf kondensiert. Dadurch fördern sie die Bildung von Wolken, die ebenfalls einen Teil des Sonnenlichts zurückwerfen.
Schwefel in der Atmosphäre hat also einen kühlenden Effekt, der mit den sinkenden Emissionen nun ebenfalls zurückging. Im Nordatlantik verlaufen einige der meistbefahrenen Schiffsrouten. Der Kühleffekt war hier somit besonders groß, die gesunkenen Emissionen machen sich entsprechend stärker bemerkbar – so die Schlussfolgerung.
Ein Teil der Erhitzung könnte sich also dieser Umweltschutzmaßnahme zuschreiben lassen. Die neue IMO-Regulierung "ist ein großes natürliches Experiment", zitiert die Zeitschrift "Science" den Atmosphären-Physiker Duncan Watson-Parris von der Scripps Institution of Oceanography in San Diego. "Wir verändern die Wolken."
Ein unfreiwilliges Experiment
Dieses "Experiment" ist unfreiwillig – könnte aber zu wichtigen Erkenntnissen führen. Denn tatsächlich sind Technologien, die die Wolkenbildung fördern und so die Erde kühlen sollen, als vermeintliche Lösung der Klimakrise immer wieder im Gespräch. Die Rede ist von "Geoengineering". Und dabei setzen einige Experten auch darauf, künstlich Schwefel in die Atmosphäre zu bringen. Aktuell könne man die erhoffte Wirkung also in die entgegengesetzte Richtung beobachten, so die Idee.
Für tatsächliche Beweise ist es im Fall des Nordatlantiks aber noch zu früh, urteilten Anfang August die Wissenschaftler des europäischen Klimawandeldienstes Copernicus – zumal die Rolle von Aerosolen und Wolken ohnehin noch nicht ausreichend erforscht sei. Zudem weisen die Experten darauf hin, dass die Aerosol-Anomalien durch andere Faktoren deutlich größer sind.
Welches Gebiet zählt zum Nordatlantik?
Die Temperaturdaten stammen von der Universität Maine in den USA. Zum Nordatlantik zählen die Experten dort die Fläche vom Äquator bis zum 60. Breitengrad Nord, der nördlich von Schottland liegt, sowie vom nullten Längengrad, der durch London geht, bis zum 80. Längengrad West, an dem Florida liegt.
So tragen normalerweise die nordöstlichen Passatwinde Staub aus der Sahara auf den Atlantik und darüber hinweg bis in den Amazonas-Regenwald – dort liefert er den Pflanzen wichtige Nährstoffe. Über dem Meer spendet er Schatten, wodurch sich das Wasser weniger aufheizt.
Aktuell sind die Passatwinde jedoch ungewöhnlich schwach. Wieso, ist noch nicht vollständig geklärt. Es befindet sich dadurch weniger Staub in der Luft. Es könnte also sein, dass so mehr Sonneneinstrahlung auf das Meer trifft und es erwärmt, vermutet der Klimaforscher Michael Mann. Die Hitzewelle im Nordatlantik "unterstreicht das natürliche Zusammenspiel zwischen der vom Menschen verursachten Erwärmung und der natürlichen Variabilität", schrieb er auf der Plattform X (vormals Twitter).
Weitere Faktoren spielen wohl eine Rolle
Als verdächtiger Faktor kommt der Ausbruch des Unterwasservulkans Hunga Tonga-Hunga Ha'apai im Südpazifik im vergangenen Jahr infrage. Dabei wurde Wasserdampf bis in die höheren Schichten der Atmosphäre gebracht – dort wirkt er isolierend, sorgt also dafür, dass weniger Wärme von der Erde in den Weltraum abgestrahlt wird. Wissenschaftler gehen davon aus, dass dieser weltweite Effekt, wenn auch klein, für mehrere Jahre anhalten wird.
Einfluss auf die Meere hat auch das natürliche Wetterphänomen El Niño – eigentlich im Pazifik. Dort kehren sich die Strömungen um, warmes Wasser sammelt sich im Zentralpazifik und vor der Küste Südamerikas. Doch auch die globalen Durchschnittstemperaturen steigen in El-Niño-Jahren – allerdings normalerweise noch nicht so früh nach Beginn des Wetterphänomens.
Folgen sind fatal
Es scheint also nicht die eine Ursache für die hohen Temperaturen im Nordatlantik zu geben. Klar ist allerdings: Die Folgen der Hitzewelle im Ozean sind fatal. Je wärmer Wasser wird, desto mehr dehnt es sich aus, wodurch der Meeresspiegel steigt. Warmes Wasser kann weniger Sauerstoff speichern – das hat Folgen für die Lebewesen im Meer. Einige Tiere und Pflanzen sind zudem besonders hitzeempfindlich, zum Beispiel die Korallen. Für sie bedeutet die Hitze im Atlantik schon jetzt immer öfter den Tod.
Der Nordatlantik beeinflusst auch das Wetter in Europa: Durch den Jetstream, ein Strömungssystem in der Atmosphäre, das von West nach Ost verläuft, ziehen Hoch- und Tiefdruckgebiete typischerweise vom Atlantik nach Deutschland. Bei höheren Meerestemperaturen kommen die Luftmassen schon wärmer an Land an.
Wärmere Luft kann mehr Wasser speichern, und damit mehr potenziell Regen mit sich bringen. Und Wärme ist Energie – auch stärkere Winde und Gewitter können die Folge sein.
- spektrum.de: "Warum der Nordatlantik so extrem warm ist"
- spektrum.de: "Was der warme Atlantik mit unserem Wetter macht"
- atmosphere.copernicus.eu: "Aerosols: are SO2 emissions reductions contributing to global warming?"
- science.com: "‘We’re changing the clouds.’ An unintended test of geoengineering is fueling record ocean warmth"
- science.com: "Water vapor injection into the stratosphere by Hunga Tonga-Hunga Ha’apai"
- carbonbrief.org: "Analysis: How low-sulphur shipping rules are affecting global warming"
- twitter.com: Profil von Prof Michael E. Mann