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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Keine fahrlässige Tötung Ahrtalflut mit 135 Toten: Niemand wird angeklagt
135 Menschen mussten sterben und zwei Minister ihren Hut nehmen – aber niemand muss vor Gericht: Trotz Versagens bei der Ahrtalflut wird auch der damalige Landrat Jürgen Pföhler nicht angeklagt.
Es war eine Katastrophe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 an der Ahr, die sich angekündigt und entwickelt hatte. Die Flutwelle schwappte auf 70 Flusskilometern von Ort zu Ort und riss die ersten Menschen am frühen Abend und die letzten mehr als acht Stunden später in den Tod. 135 Tote, keine rechtzeitigen Warnungen vor der Tsunami-artigen Welle – und niemand soll dafür verantwortlich sein?
Diese Frage beschäftigte Tausende Menschen im Flusstal im Norden von Rheinland-Pfalz – und sie ist jetzt beantwortet: Nein, es wird dafür niemand vor Gericht stehen müssen.
Das hat die Staatsanwaltschaft am Donnerstag in einer Pressekonferenz erklärt, auf die die Menschen mit großer Spannung gewartet hatten. Zweieinhalb Jahren wurde ermittelt, eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung standen im Raum. Im Fokus dabei: der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU).
Zwei Minister traten zurück
So hatten zuvor zwar die frühere Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) und der frühere Innenminister Roger Lewentz nach den Ergebnissen eines Untersuchungsausschusses politische Verantwortung übernehmen und ihre Ämter abgeben müssen. Aber es gab keine juristisch Verantwortlichen. Und so wird es nun wohl für immer bleiben, ein Ergebnis, das viele Betroffene kaum zufriedenstellen dürfte.
Im Ahrtal hatte sich nach der Katastrophe große Fassungslosigkeit breit gemacht, warum so viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Denn: Es gab Vorzeichen, es gab Warnungen – aber sie kamen bei den Menschen nicht an. Am Oberlauf der Ahr hatte es an jenem 14. Juli 2021 nach den enormen Regenfällen schon am frühen Abend auf einem Campingsplatz die ersten Toten gegeben, eine junge Feuerwehrfrau war darunter. Videos des weit über die Ufer getretenen Flusses mit berstenden Brücken verbreiteten sich schon viral. Um 17.17 Uhr hatte das zuständige Landesamt die höchste Warnstufe fünf ausgerufen: ein katastrophales Hochwasser.
Auch drei Kinder starben bei der Flut
Ein 60-Jähriger aus dem Örtchen Kreuzberg wird nach der Flutkatastrophe bis heute vermisst. Bei einer Müllsammel-Aktion fanden Helfer im Oktober 2023 zuletzt die Knochen eines Vermissten, des 22-jährigen Franky aus Bad Neuenahr-Ahrweiler. Das jüngste Todesopfer war 4 Jahre alt, zwei weitere Kinder und ein Jugendlicher kamen ums Leben. Das älteste Opfer war 97. Unter den Toten ist auch eine Feuerwehrfrau. In den ersten Monaten nach der Flutnacht nahmen sich im Zusammenhang mit der Katastrophe zudem vier Menschen das Leben, berichtete damals der Opferbeauftragte.
Als der Kreis Ahrweiler aber die höchste Warnstufe erklärte, war es bereits 23.09 Uhr, und die todbringende Welle erreichte schon die Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler. Rund 70 Menschen starben dort, so viele wie in keinem anderen Ort. Die Feuerwehr war am Abend Runden gefahren und hatte die Menschen aufgefordert, in den Häusern zu bleiben und nicht in den Keller zu gehen. Der Evakuierungsaufruf in der Nacht kam in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu spät.
22-Jährige ging nach Durchsage schlafen und starb
Es gibt ein Video, das die Feuerwehr in einer Straße zeigt, in der die 22-jährige Johanna Orth lebte und die Durchsage rund vier Stunden vor ihrem Tod filmte. Ihre Eltern trifft die jüngste Entscheidung der Staatsanwaltschaft schwer, sagte ihr Anwalt Christian Hecken t-online. Sie wollen weiterhin, dass der Landrat vor Gericht kommt, und sie werden Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft einlegen: "Johanna hätte mit Sicherheit überlebt, wenn die Menschen gewarnt worden wären." Das reiche für die Anklage. Die Staatsanwaltschaft sah das anders. Es gebe keine Gewissheit, wie Menschen auf eine Warnung reagierten, so der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler in der Pressekonferenz. "Mit Wahrscheinlichkeiten werden in Deutschland keine Menschen verurteilt."
Die Eltern von Johanna Orth, zum damaligen Zeitpunkt auf Mallorca, bekamen in der Nacht gegen 0.30 Uhr einen panischen Anruf. Johanna Orth hatte sich um 21.30 Uhr schlafen gelegt und wurde dann wach. Ihr Vater Ralph Orth schildert den Anruf so: "Papa, ich stehe hier im Wasser, es ist dunkel … und ich krieg' die Tür nicht auf. Ich kriege die Tür nicht auf, und es ist dunkel." Der Wasserdruck verhinderte das Öffnen.
Nach gut einer Minute brach die Verbindung ab. "Es war der schrecklichste Moment meines Lebens", so Ralph Orth. Die Eltern vermuten, dass die Tochter versuchte, sich über die Terrassentür zu retten – und dort dann mit der Strömung weggezogen wurde. Zwei Tage später wurde Johannas Körper in der Tiefgarage des Wohnblocks gefunden, das Handy mit dem Video in der Wohnung. Ralph Ort schickte es der Staatsanwaltschaft und appellierte: "Bitte helfen Sie dabei, dass die Verantwortlichen sich erklären, warum unsere Tochter sterben musste."
Drei Stunden später sterben 14 Menschen in Sinzig
In der Unglücksnacht vergingen nun noch weitere rund drei Stunden, bis die Welle in Sinzig ankam, wo die Ahr in den Rhein mündet. Als der Pegel hier wieder fiel, waren 62 Brücken an der Ahr zerstört.
Die schwersten Naturkatastrophen
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft kann abschätzen, welche Naturkatastrophen welchen finanziellen Schäden angerichtet haben. Die Sturzflut von 2021 führt die Liste bis heute an:
1. Sturzflut "Bernd": Der Starkregen mit der Flut im Juli 2021 verursachte in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen versicherte Schäden in Höhe von 9,5 Milliarden Euro.
2. August-Hochwasser 2002: Nach Extremniederschlägen im Alpenraum und im Osten Deutschlands Hochwasser mit 5,62 Milliarden Euro Schaden.
3. Sturm "Kyrill": Im Januar 2007 richtet er vor allem in Ostdeutschland Schäden an. Summe insgesamt: 4,05 Milliarden Euro.
4. Hagelsturm "Andreas": Am 28. und 29. Juli 2013 fielen gewaltige Hagelkörner auf einige Teile Deutschlands, Reutlingen und Wolfsburg waren besonders betroffen. 3,6 Milliarden Euro.
5. Juni-Hochwasser 2013: Nach einem nassen Frühjahr brachte ein ausgedehntes Tief in sieben europäischen Ländern Überflutungen. Schaden in Deutschland: 2,65 Milliarden Euro.
Immer, wenn eine Brücke dem Druck des aufgestauten nicht mehr standgehalten hatte, war das wie ein Dammbruch. Es erklärt, warum das Wasser so schnell stieg. In Sinzig starben 14 Menschen, darunter zwölf Bewohner einer Einrichtung der Lebenshilfe. "Du denkst, Du bist in Deutschland, da gibt es Katastrophenschutz", sagte Ulrich van Bebber, Vorsitzender der Lebenshilfe und Kreistagspolitiker für die FDP. "Und dann versagt der Staat, besonders hilfsbedürftige Personen zu schützen."
Für den Katastrophenschutz ist nach der Aufgabenverteilung der Landkreis zuständig, in Ahrweiler stand Landrat Jürgen Pföhler (CDU) an der Spitze. Untersuchungsausschuss und Ermittlungen ergaben, dass er keine entsprechenden Kurse besucht hatte, obwohl die Akademie des Bundes ihren Sitz sogar in Ahrweiler hat. Er ging an dem Tag am frühen Nachmittag nach Hause, gab die Leitung an den ehrenamtlichen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur ab und wurde in der Verwaltung noch einmal kurz gesehen: um 19.30 Uhr bei einem Fototermin mit Innenminister Rogel Lewentz (SPD) in der Einsatzzentrale im Keller des Kreishauses.
"Entscheiden nicht über charakterliches Versagen"
Der Mann, den er dann die Arbeit machen ließ, war der ehrenamtliche Kreisbrandinspektor Michael Zimmermann, auch gegen ihn wurde ermittelt. Sein Stellvertreter sagte später, wenn der ehrenamtliche Feuerwehrmann belangt werde, habe das unabsehbare Folgen für Feuerwehren. Und Zimmermann war in der Technischen Einsatzleitung alleingelassen worden: Er gab später bei einer Befragung an, dass er den Landrat bei mehreren Versuchen in der Flutnacht nicht erreicht habe. Einen Verwaltungsstab zur Unterstützung in einer solchen Lage hatte Pföhler auch nicht eingerichtet.
Ermittelt wurde danach aufwendig: Allein 6.900 Notrufe wurden ausgewertet, rechnete LKA-Chef Mario Germano vor, der selbst aus dem Kreis Ahrweiler stammt. Mehr als 300 Zeugenvernehmungen und Befragungen habe es gegeben, 20.000 Seiten Akten kamen zusammen. Dennoch hat die Staatsanwaltschaft entschieden, dass Pföhler und der Einsatzleiter nicht angeklagt werden.
Es sei nicht erweislich, dass sich der Landrat und der Einsatzleiter in der Flutnacht strafbar gemacht hätten, sagte der Leitende Oberstaatsanwaltschaft Mario Mannweiler. Es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht, eine Verurteilung sei nicht wahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft habe kein moralisches Werturteil zu treffen und nicht darüber zu befinden, ob jemand charakterlich versagt habe.
Es gehe darum, ob die Beschuldigten eine bestimmte Handlung unterlassen haben, die konkret diese Folgen gehabt habe. "Pflichtwidrigkeit zu begehen ist für sich zunächst nicht strafbar. Es muss eine Kausalität bei dem Schaden bestehen, der Fehler muss diesen Schaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verursacht haben."
Ein großes Problem sei gewesen, dass die Einsatzleitung lange Zeit nichts von der katastrophalen Lage an der Oberahr gewusst und nicht geahnt habe, was in der extremen Situation auf die Menschen zukomme und nötig sei. "Sie kannte das tatsächliche Ausmaß nicht", habe also auch nicht das nötige Lagebild als Grundlage gehabt. Der Erfolg selbst von Evakuierungen sei zu dem späten Zeitpunkt dann nach Ansicht eines Gutachters nur spekulativ. Mannweiler schloss: "Am Ende bleibt die Hoffnung, dass die Ermittlungen dazu beitragen können, dass wir künftig bei solchen Katastrophen besser gewappnet sind."
"Zerrüttet Glauben an den Rechtsstaat"
"Die Einstellung zerrüttet den Glauben meiner Mandanten an den Rechtsstaat", sagt Christoph Hecken, Anwalt der Eltern der ertrunkenen Johanna. Sie seien aber nicht überrascht. Er hatte kurzfristig beim rheinland-pfälzischen Justizminister die Ablösung der Staatsanwälte beantragt, weil die parteiisch seien und Gutachtern einseitig Vorgaben gemacht hätten.
Der Autor und Kriminalbeamte Andy Neumann teilt die Enttäuschung. Mit dem "Spiegel"-Bestseller "Es war doch nur Regen" und seinen Beiträgen in sozialen Netzwerken ist er zu einer Stimme des Ahrtals geworden, er sagt: "Die Menschen an der Ahr werden fassungslos sein, entsetzt, wütend. Wäre ich Opferangehöriger, ich würde diese Entscheidung mit allem anfechten, was ich habe."
Der Staat spreche sich mit der Entscheidung von jeglicher Verantwortung für seine Bevölkerung frei. Es werde auch ein politisches Risiko eingegangen: "Das passiert in einer politischen Gesamtstimmung im Land, die den Demagogen und politischen Rändern mehr und mehr Wählerstimmen zuträgt." Er fürchte, dass das auch hier der Fall sein werde.
- Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft
- Anfragen an Anwalt Hecken, Staatsanwaltschaft Koblenz, Andreas Neumann