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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schuldgefühle nach schwerem Unfall Der Kampf gegen die Dämonen
Gerards Leben hat sich innerhalb weniger Sekunden schlagartig verändert: Bei einem Unfall verlor er sein linkes Bein. Monatelang hatte er keine Motivation, ins Leben zurückzufinden – dabei ging es aber weniger um seine körperlichen Einschränkungen.
Wenn Gerard sich bei einem Arzt vorstellt, legt er ihm eine dicke Krankenakte auf den Tisch. Sein Gegenüber fragt dann meist erstaunt: "Ach, und du bist noch hier?" Denn dass Gerard noch lebt, ist keinesfalls selbstverständlich. Am 13. Oktober 2018 nimmt sein Leben eine tragische Wendung. "Auto kracht in Ampel – Fahrer in Lebensgefahr", titelt eine Hamburger Regionalseite an diesem Samstagmorgen. Der besagte Fahrer ist Gerard. Der damals 24-Jährige zieht sich mehrere lebensbedrohliche Verletzungen zu.
Ein Punkt sticht inmitten der vielen Diagnosen sofort ins Auge: Amputation des linken Unterschenkels. Gerards Bein wird beim Unfall massiv zerquetscht. Wo vorher Fleisch und Knochen waren, ist nun eine Prothese aus Carbon.
"Ich war einfach glücklich, am Leben zu sein"
An den Unfall selbst hat Gerard keine Erinnerungen. Er ist damals mit seinem besten Freund unterwegs. Dieser wird durch den Aufprall aus dem Wagen geschleudert. Leute seien bei Rot über die Straße gelaufen, Gerard sei ausgewichen und in die Ampel gerast, erzählt ihm ein Augenzeuge nach dem Unfall. Sein bester Kumpel sitzt jetzt im Rollstuhl.
Einen Monat nach der Schicksalsnacht findet sich Gerard in einem Krankenhausbett wieder – ohne seinen linken Unterschenkel. Die Amputation erfolgte zwei Tage nach dem Unglück, während Gerard im Koma lag. "Als ich aufwachte, habe ich gesehen, dass mir ein Bein fehlt, aber ich war einfach glücklich, am Leben zu sein", erzählt er und lacht. Es ist ein lautes, herzliches Lachen.
Er nippt an einer Flasche Cola. Seine Hand zittert, als er sie anhebt. Eine weitere Folge des Unfalls. Manchmal benötigt der 27-Jährige für simple Griffe zwei Hände. Auch beim Sprechen hat er Probleme. Manchmal nuschelt er oder findet nicht auf Anhieb die richtigen Worte. Nach dem Koma musste er erst wieder lernen, fließend zu sprechen. Seine Zunge war taub, weil er sie wochenlang nicht bewegt hatte.
Gerard teilt seine Geschichte auf Instagram
In Deutschland werden jährlich rund 73.000 Patientinnen und Patienten amputiert. Etwa vier Prozent der Bein- oder Armamputationen sind auf Unfälle zurückzuführen. Bei 87 Prozent der amputierten Menschen sind Gefäßverschlüsse die Ursache, rund vier Prozent bekommen ein Glied aufgrund einer Krebserkrankung oder Infektion amputiert. Bei fünf Prozent sind es andere Gründe. Bei einem Unfall entscheidet sich die Ärztin oder der Arzt dann für eine Amputation, wenn es durch therapeutische Maßnahmen nicht mehr möglich ist, das betroffene Körperteil zu retten. So auch im Fall von Gerard.
Das Erlebte nimmt der 27-Jährige inzwischen zum Anlass, um Menschen wieder Mut zu machen, für die es nach einem Schicksalsschlag aussichtslos scheint. Auf seinem Instagram-Kanal teilt er seine Fort- aber auch Rückschritte mit seinen Followerinnen und Followern. Hauptsächlich zeigt er sich bei seinem straffen Sportprogramm. Gerard lässt damit Hunderte Menschen sehr bewusst an seiner Geschichte teilhaben. Er will anderen helfen, indem er sich selbst hilft.
Starke Schuldgefühle plagen Gerard
Das war nicht immer so: Noch vor anderthalb Jahren fehlte ihm die Motivation, die ihn jetzt antreibt. Damals verließ Gerard seine Wohnung kaum, schottete sich ab. Er wollte niemanden sehen, niemanden sprechen. Doch es war nicht sein eigenes Schicksal, das dem 27-Jährigen einen Tiefschlag versetzte – sondern das seines besten Freundes, der seit dem Unfall im Rollstuhl sitzt.
Gerard entwickelte starke Schuldgefühle – obwohl sein Kumpel ihm keine Vorwürfe machte. Anstatt sich auf seine eigene Genesung zu konzentrieren, beherrschte den Hamburger monatelang ein Gedanke: "Meinetwegen kann mein bester Freund nie wieder laufen." Gedanken wie diese nennt er Dämonen. Dämonen, die seinen Kopf ausfüllen und seinen Körper lähmen. Doch Gerard kämpft dagegen an, mit aller Kraft – und mit sehr viel Sport.
Meistens unterwegs mit dem Rollstuhl
Es regnet an diesem Tag, der Himmel ist grau. Trotzdem ist Gerard unterwegs zum Sportstudio. Die Strecke von der Bushaltestelle bewältigt er mit dem Rollstuhl. Noch ist sein Gang zu unsicher, der Weg zu lang, als dass er ihn mit der Prothese laufen könnte. "Training für die Arme", so sieht es der 27-Jährige. Wegen des Wetters trägt er eine lange Sporthose. Sonst bevorzuge er Shorts, die seien bequemer. Sein schwarz-silberner Beinersatz lugt wenige Zentimeter heraus. Seine bunten Sneaker ziert die Aufschrift "Just do it" ("Tu es einfach") – Gerards Lebensmotto, wie sich beim Sport zeigen wird.
Im Studio beginnt er mit dem Dehnen. Er hievt sich aus seinem Rollstuhl auf eine Matte, die ihm sein Kumpel Maurice zurechtgelegt hat. Die beiden treffen sich öfter beim Sport. Gerards Beine wackeln, er taumelt etwas, aber mit eingespielten Bewegungen schafft er es, sich auf den Boden zu setzen. Das gestrige EMS-Training (kurz für Elektromyostimulation) macht sich bemerkbar. Dabei werden einzelne Muskelfasern mittels elektrischer Impulse gezielt behandelt. "EMS ist wirklich hart. Da schreie ich. Und am nächsten Tag habe ich immer Muskelkater im Bauch, im Arsch und in den Beinen", sagt Gerard. Sein Lachen füllt den ganzen Raum. Eine Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen blitzt hervor.
Einen gut sitzenden Beinersatz hat Gerard erst seit Februar dieses Jahres. Davor kam er mit diversen Prothesen nicht zurecht – mal streikten die künstlichen Fußgelenke, mal scheuerte der Stumpf. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt: "Ich ziehe die Prothese jeden Morgen an wie einen Schuh."
"Schneidet es mir doch einfach ab"
Viel mehr Sorgen als der linke Unterschenkel bereitet ihm oftmals sein rechtes, nicht amputiertes Bein. Die Kniescheibe fehlt. Nach dem Unfall war das Bein deswegen monatelang steif. Auch deshalb kann sich Gerard nicht ohne Rollstuhl fortbewegen. An manchen Tagen wünscht er sich, dass auch sein zweites Bein amputiert wird. "Schneidet es mir doch einfach ab", denkt er dann.
Trotz der Umstände verliert der Hamburger sein größtes Ziel nicht aus den Augen: sich irgendwann wieder ohne Krücken und Rollstuhl fortzubewegen. Vielleicht bekommt er bald eine Knieprothese, das wäre ein wichtiger Schritt.
Während Gerard sich dehnt, springt sein Kumpel Maurice Seil. "Wenn ich das wieder kann, weiß ich, dass ich es geschafft habe", so der 27-Jährige. Kurz vor dem Unfall hat er seine Prüfung zum Fitnesstrainer absolviert. Er schließt nicht aus, irgendwann wieder als Coach zu arbeiten, aber das ist gerade noch nicht möglich. Bei seinem täglichen Sportprogramm macht er Gehübungen mit Prothese und Krücken, Bauch-, Beine-, Po-Training, Fitness und manchmal eben noch EMS.
"Natürlich gibt es immer noch schlechte Tage"
Unter der Woche gibt er Kindern zudem ehrenamtlich Boxtraining. "Wir geben uns gegenseitig etwas", sagt Gerard. Die Kinder gingen mit seinem fehlenden Bein besser um als manch Erwachsener. "Letztens hat mich ein älterer Mann sehr unsensibel gefragt, was passiert ist. Dann habe ich einfach gesagt, mein Bein sei von einem Samuraischwert abgetrennt worden." Seinen Humor hat der 27-Jährige trotz der Erlebnisse offensichtlich nicht verloren.
Die Dämonen in seinem Kopf hat Gerard inzwischen im Griff. Er hat viel mit seiner Familie, seiner Partnerin und Freunden über den Unfall und seine Emotionen gesprochen, er hat sich seinen Mitmenschen wieder geöffnet. "Natürlich gibt es immer noch schlechte Tage", sagt Gerard. "Aber dann dreh ich die Musik auf und es geht los." Mit seinem besten Kumpel rollt der 27-Jährige nun gemeinsam durchs Leben. "Wir haben akzeptiert, was passiert ist, wir leben jetzt damit. Es bringt nichts mehr, nach hinten zu schauen, du musst nach vorne schauen."
"Es gibt keine Ausreden, egal wie kaputt ich bin"
Gerard setzt sich mit gespreizten Beinen auf ein Fitnessgerät. Mit aller Kraft stemmt er mit seinen Oberschenkeln ein Elf-Kilo-Gewicht. Die Übung beansprucht besonders die Bein- und Bauchmuskeln, erklärt er. Das sei wichtig, um Stabilität im Gang zu gewinnen. Er kneift die Augen zusammen und schnauft bei jedem Durchgang. "Ja, ja, ja", schreit er durch den ganzen Raum, als er seine letzte Einheit beendet und das Gewicht fallen lässt.
Gerard packt seine Sportsachen in den Rucksack. Sein Fitnessprogramm ist für heute beendet. Er nimmt im Rollstuhl Platz. Morgen kommt er wieder. "Immer weiter und weiter und weiter. Es gibt keine Ausreden – egal wie kaputt ich bin. Warum sollte ich jetzt aufhören?", fragt er und grinst.
- Recherche vor Ort
- Instagram-Profil von Gerard