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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studentin berichtet aus Kongsberg Die Norweger hatten sofort einen Verdacht
Die Szenen, die sich in der Innenstadt von Kongsberg abgespielt haben, erschüttern das Bild vom beschaulichen Norwegen. Die Einwohner dachten schnell an ein bestimmtes Täterprofil, erzählt eine von ihnen.
Başak und ihr Freund ziehen sich gerade an und wollen ausgehen, als sie plötzlich Polizeisirenen hören. Auch zwei Helikopter kreisen jetzt über ihrem Haus. Fast zeitgleich klingelt das Telefon, Familienmitglieder rufen an. Başak ahnt: Es ist etwas passiert.
Für diesen Abend hatte ihr Freund einen belebten Ort zum Ausgehen ausgesucht: das Zentrum der Stadt Kongsberg, die rund 80 Kilometer südwestlich von Norwegens Hauptstadt Oslo liegt. Doch daraus wird nichts. "Uns wurde gesagt, wir sollen drinnen bleiben und unsere Türen verschließen", schildert sie t-online am Tag danach.
Kongsberg ist zu diesem Zeitpunkt längst weltweit in den Schlagzeilen – als Schauplatz einer schrecklichen Gewalttat. Kurz nach 18 Uhr am Mittwochabend sind dort mehrere Menschen mit Pfeil und Bogen getötet und verletzt worden. Was bislang über Täter und Tathergang bekannt ist, lesen Sie hier.
Başak, die in Oslo studiert, und ihr Freund wohnen derzeit in der Gemeinde Gamlegrendåsen, die zu Kongsberg gehört. Es ist seine Heimat. In der Nacht nach der Tragödie finden beide kaum Schlaf.
Erinnerungen an Breivik
Die Szenen rufen unwillkürlich Erinnerungen an das Massaker von Utøya wach. In diesem Sommer war es zehn Jahre her, dass der Terrorist Anders Behring Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe zündete und anschließend auf der Insel Utøya Jugendliche regelrecht hinrichtete.
77 Menschen verloren ihr Leben. 2019 fand er einen Nachahmer. Ein junger Norweger stürmte eine Moschee in Bærum bei Oslo. Sein Ziel war es, so viele Muslime wie möglich zu töten, doch er konnte überwältigt werden. Später stellte sich heraus, dass er zuvor seine Halbschwester getötet hatte.
Viele Norweger gingen daher davon aus, dass der Täter auch diesmal aus der rechten Szene kommen müsse, erzählt Başak. "Ich habe viele meiner norwegischen Freunde gefragt, was sie denken, wer es war und sie sagten: Es muss ein weißer Mann gewesen sein, jemand, der Breivik und den konservativen rechten Flügel unterstützt." Auch im Netz wurde im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen über Breivik viel diskutiert – folglich trendete der Hashtag #Breivik Donnerstagmittag auf Twitter.
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Die Ermittler gehen derzeit jedoch von einem anderen Hintergrund aus. Der mutmaßliche Täter war der Polizei mehrfach gemeldet worden, weil er zum Islam übergetreten sei und sich radikalisiert habe. Zweimal wurde der Däne bereits verurteilt: wegen Diebstahls, Drogenmissbrauchs und weil er Familienmitgliedern mit dem Tod gedroht hatte. Was ihn veranlasst haben soll, am Mittwoch so viele Menschen zu töten, müssen nun die Ermittler herausfinden. Der norwegische Sicherheitsdienst PST erklärte: "Die Vorfälle in Kongsberg erscheinen derzeit als terroristischer Akt".
Terror im kleinen Kongsberg mit seinen rund 26.000 Einwohnern? Das konnte sich vor Ort bislang niemand vorstellen, Gewaltverbrechen sind eine Seltenheit. "Kongsberg gilt eigentlich als sehr sichere Stadt, sie ist auf nationalen Listen sogar als eine der sichersten Städte Norwegens angegeben", sagte Başak.
"Die Leute wirken nervös und traurig"
Die Stimmung am Tag nach dem Terrorakt ist geprägt von Schock und Trauer. "Die Leute gehen zur Arbeit und die Schulen sind offen, aber es ist ruhiger als sonst im Zentrum von Kongsberg", berichtet Başak. "Viele wirken nervös und traurig, ich habe einige auch weinen gesehen", so die Studentin. Das Stadtbild sei von vielen Reportern geprägt. Die Menschen kommen, um Blumen am Tatort niederzulegen und Kerzen für die Opfer anzuzünden.
Die Polizei geht davon aus, dass der 37-jährige Attentäter aus Dänemark allein handelte. In Kongsberg und in Drammen, der Nachbarsstadt, sind heute trotzdem bewaffnete Polizisten vor Ort, berichtet die Studentin. "Es wirkt alles wieder okay. Wir dürfen rausgehen, aber sollen trotzdem vorsichtig sein, weil sie sich nicht sicher sind, ob er Komplizen hat."
- Gespräch mit Başak am 14. Oktober 2021
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa