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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dorfpolitiker als Quelle "Querdenker" macht Angst mit Lockdown-Termin
Deutschland steht am 30. August ein Lockdown bevor, alle Gemeinden sind informiert – und nur durch ein Ratsmitglied eines hessischen Dorfs wird das bekannt?! Es gibt Menschen, die so etwas glauben.
Ein Video über einen angeblich beschlossenen Lockdown um den 30. August schürt trotz völlig abwegiger Annahmen Angst und Empörung in der Szene der Corona-Zweifler und -Leugner. In Facebook- und Telegram-Gruppen gibt es viele Stimmen, die die Ankündigung ernst nehmen. Das Original des als "Sensations-Video" angepriesenen Interviews hat seit der vergangenen Woche 450.000 Abrufe, es gibt aber auch diverse Kopien davon und andere Videos, die sich darauf beziehen.
Vor der Corona-Krise hätte ein solches Video kaum jemand wahrgenommen, und t-online.de hätte nie darüber berichtet. In der Verunsicherung durch die Krise halten Menschen die absurden Theorien für möglich – deswegen erläutert t-online.de, wieso an den Behauptungen nichts dran sein kann.
Kulturveranstalter von seiner Erzählung überzeugt
In dem Video verbreitet ein Aktivist der "Querdenker"-Bewegung die Überzeugung, dass ein "bundesweiter Lock-Down" am 30. August bereits seit mindestens Mitte Juni beschlossen sei: Es ist der aus dem Kreis Fulda kommende Thomas Bayer, ein durch die Corona-Krise gebeutelter Veranstalter von Film- und Vortragsabenden. Er ist offenbar völlig überzeugt davon, einer großen Verschwörung auf die Spur gekommen zu sein. Mit t-online.de wollte er darüber nicht sprechen. "t-online.de ist Regierungspresse, Sie verdrehen ohnehin alles", sagte er, ehe er auflegte.
In dem Video vertritt Bayer ernsthaft, dass alle Gemeinden in Deutschland im Juni von "ganz oben" benachrichtigt worden sind, dass am 30. August oder ein oder zwei Tage früher oder später ein Lockdown verhängt wird. Demnach wären fast 11.000 Gemeinden in Deutschland seit rund zwei Monaten informiert, dass das Leben Ende August fast still stehen soll. Quelle dafür ist angeblich ein einfacher Kommunalpolitiker in Osthessen, der als einziger darüber gesprochen hat.
"Das würde in Stunden durchsickern"
"Wenn es ein solches Schreiben an die 422 Städte und Gemeinden in Hessen geben würde, würde ich das kennen", sagt David Rauber, Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebunds. Noch weiter geht ein Sprecher des Hessischen Innenminsteriums, das für die Informationsweitergabe an die Kommunen zuständig ist. "Das gibt es nicht, und zu glauben, so was ließe sich geheim halten, ist großer Nonsens", sagte er t-online.de. "Ein Schreiben von solcher Tragweite würde bereits schon durch Mitarbeiter in unserem Ministerium innerhalb von Stunden an die Öffentlichkeit sickern."
Das ominöse Schreiben hat "Querdenken"-Aktivist Bayer aus dem osthessischen Kreis Fulda auch nicht. Er beruft sich lediglich auf die angebliche Erzählung eines Gemeinderatmitglieds einer hessischen Gemeinde. Der Ort kann anhand der von ihm geschilderten Zahl von Ratsmitgliedern höchstens 5.000 Einwohner haben. Das Ratsmitglied sei zum Stillschweigen angehalten worden und habe auch Angst, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, so Bayer, der bei mindestens einer Querdenker-Demo Redner war.
Im Rat am Rande verkündet
Die Schilderung gehe so: Als der Rat am 20. Juni tagte, habe der Bürgermeister am Ende der Sitzung die Bombe platzen lassen. Auf eine Frage hin habe er erklärt, dass ein Lockdown um den 30. August kommen werde und alle Gemeinden informiert worden seien. Allerdings hätte die Nachricht im Rat keine Aufregung ausgelöst.
Bei Bayer schon. Ende Juli will er davon erfahren und nach einer Woche Prüfung und Bedenkzeit ein Interview mit einem YouTuber vereinbart haben, um das vermeintlich Ungeheuerlich an die Öffentlichkeit zu bringen. Am 31. Juli erschien es. YouTube hat es auch nicht gelöscht.
Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) spricht gegenüber t-online.de von "würdelosem Geschacher um Klicks und wenige Minuten Aufmerksamkeit". Solche Videos, ob sie Bill Gates als dunkle Macht des Bösen diffamieren oder einen vermeintlich staatlich geplanten Lockdown erfinden, verfolgten "lediglich das Ziel, Menschen nach eigenem Gusto zu manipulieren". Tatsächlich wird das Video auch genutzt, um für Corona-Demos zu mobilisieren.
Es gibt kein bundeseinheitliches Vorgehen
Die Vorstellung des bundesweiten Lockdowns ist schon deshalb völlig unrealistisch, weil die Länder durch eigene Verordnungen für entsprechende Regelungen zuständig sind. Die Bundesregierung hatte in der Vergangenheit bereits Mühe, die Länder zu einheitlichem gemeinsamem Vorgehen zu bewegen. Bei völlig unterschiedlichem Infektionsgeschehen ist das auch nicht sinnvoll, in manchen Bundesländern gibt es fast keine Fälle. Es ist nahezu unvorstellbar, dass diese Länder sich auf weitreichende Einschränkungen einlassen würden.
Doch wer den angeblich im Juni bereits geplanten Lockdown für echt hält, muss dann auch glauben, dass die Einschränkungen völlig unabhängig davon kommen, ob sich die Pandemie in Deutschland überhaupt verschärft. Das wird im Video auch behauptet. Es ist der nächste Punkt, bei dem man merken müsste, wie abwegig die Idee ist.
Gerichte kassieren überzogene Maßnahmen
Städtebund-Geschäftsführer Dauber: "Ob die zuletzt stark gelockerten Vorgaben verschärft werden müssen, hängt von der Anzahl der Neuinfektionen und der Art der Ausbreitung des Virus ab." Dabei gilt aber: "Die Gerichte schauen hier sehr genau hin, wie die letzten Monate gezeigt haben. Sie haben Beschränkungen kassiert, wenn die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt war." Maßnahmen ohne hinreichende Berechtigung werden von Gerichten gekippt.
Die Geschichte vom Lockdown passt aber in Erzählungen anderer Akteure, die das deutsche Parteiensystem oder den deutschen Staat ablehnen. So erzählt es ein unter Pseudonym auftretender Autor in seinem Video. Der vorgebliche "Lockdown" am 30. August sei dazu da, den wirtschaftlichen Zusammenbruch ab September zu vertuschen. Auch dieses Video wird in einschlägigen Gruppen rege verbreitet, kommt auf über 100.000 Abrufe.
Der Hintergrund hier ist: Tatsächlich wird mit vielen Pleiten gerechnet, wenn die Insolvenzantragspflicht wieder gilt. Sie ist aber im kompletten September noch ausgesetzt, der Termin 30. August würde da auch keinen Sinn ergeben. Und ein "Lockdown" würde die Lage ja nicht vertuschen, sondern dramatisch verschlimmern. Der Mann mit Trump-Mütze hält dennoch fest: "Wenn dieses Datum rauskommt, das könnte denen den Stachel ziehen."
Nun ist das Datum ja raus. Und das "Regierungsmedium" t-online.de hat es sogar verbreitet...
- Eigene Recherchen
- YouTube-Kanäle (Keine Verlinkungen)
- Bundesministerium für Verbraucherschutz: Insolvenzantragspflicht wird ausgesetzt