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Fall Tanja Gräff: Tod am Roten Felsen in Trier – war es Mord?


Fall Tanja Gräff
Tod am Roten Felsen – war es Mord?

11.07.2019Lesedauer: 6 Min.
Vermisstenplakat: Jahrelang wurde die Studentin Tanja Gräff gesucht.Vergrößern des Bildes
Vermisstenplakat: Jahrelang wurde die Studentin Tanja Gräff gesucht. (Quelle: Birgit Reichert/dpa)

Eine junge Studentin verschwand 2007 in Trier, Jahre später wurde ihr Schädel am Fuß einer Felswand gefunden. Unfall oder Mord? Und welche Rolle spielte ein Mann, der nur als "Spitzbart" bekannt wurde?

Die Bundesstraße 53 drängelt sich nahe der Trierer City von Nordosten her in die Stadt. Links windet sich die Mosel. Rechts ragt der Rote Felsen 50 Meter steil in den Himmel. Kurz nach acht Uhr am Morgen des 11. Mai 2015 sind an seinem Fuß Arbeiter mit Rodungen beschäftigt. Sie schneiden wuchernde, 2,50 Meter hohe Brombeersträucher weg.

Überraschend stoßen sie auf die Reste eines Menschen. Einen Schädel. Einige Knochen. Auch auf einen Pullover. Eine Halskette. Ein Handy. Wenig später ahnt die Trierer Kripo: Die Arbeiter haben die Leiche von Tanja Gräff entdeckt. Die 21-jährige Studentin war acht Jahre zuvor verschwunden.

Niemals wiedergesehen

Das uralte, römische, katholische Trier ist mit 107.000 Einwohnern eine Großstadt. Bei einem Vergleich der bundesweiten Kriminalitätszahlen ist sie eine der sichersten in Deutschland. Waltraud Gräff wird das anders empfinden. Sie hat die Tochter verloren und vor wenigen Jahren den Mann. Er starb wohl aus Gram über den Verlust des Kindes. Sie wohnt in Korlingen vor den Toren der Stadt und erinnert sich immer noch an den Abend des 6. Juni 2007. Damals setzte sie Tanja mit dem Auto an der Fachhochschule (FH) ab. Tanja sagte, sie sei zum Mittagessen am nächsten Tag wieder da. Die Mutter hat ihre Tochter nicht lebend wiedergesehen. Sie möchte heute nur noch zur Ruhe kommen.

Die Fachhochschule war an diesem Tag kein einsamer Platz. Es fand ein Studentenfest statt. 10.000 junge Leute feierten in die Nacht. Doch die letzten Stunden im Leben der schlanken, rotblonden Tanja Gräff in diesem Gewühl geben Rätsel auf. Nicht anders ihr letzter Weg. Warum ist sie ihn gegangen? Mit wem? Die Polizei ist an vielen solcher Fragen gescheitert.

Sie geht heute von einem Unfall aus, von einem Fehltritt der Studentin oben am Berg und dem Absturz an besagtem Roten Felsen. Vielleicht unter Einfluss von Alkohol oder dem von Beziehungsfrust? Freunde und Familie sehen manches anders. Sie haben Kontakte der jungen Frau in den kritischen Stunden rekonstruiert. Sie stießen auf seltsame Personen, die bei ihr standen. Sie fürchten ein Verbrechen.

"Lass die Tanja in Ruhe!"

Tanja Gräff war allen Erzählungen nach keine, die sich leichtfertig mit Männern einließ. Sie liebte ihr Elternhaus, ihre stabilen sozialen Verhältnisse und ein buntes Outfit wie an dem Abend aus T-Shirt, Jeans und einer Handtasche handgenäht aus einem Hawaiihemd-Stoff ihres Vaters. Sie galt als bürgerlich, war leidenschaftliche Bogenschützin und hatte Zukunftspläne. Und da war möglicherweise auch ein junger Mann, Student und Gitarrist einer Death-Metal-Band, den sie seit einem Monat ziemlich mochte. Medien haben ihn Andreas genannt, sein wahrer Name ist geschützt. An diesem Feierabend wollte sie ihn treffen.

Der späte Abend des 6. Juni 2007. Tanja, Andreas und ein paar Freunde ziehen gemeinsam übers Gelände der FH. Dann verlieren sie sich in der Menge, warum auch immer. Der Handy-Empfang ist instabil. Andreas und einige aus der Gruppe fahren irgendwann in der Nacht in die Stadt zurück. Tanja will nachkommen. Doch ein Bekannter trifft sie gegen 3.50 Uhr am frühen Morgen immer noch auf dem Platz, wo nach wie vor 5.000 junge Menschen feiern. Ein Unbekannter, schlank, etwa 1,75 Meter groß, steht an einem Bierstand neben ihr. Der herrscht den Bekannten an: "Lass die Tanja in Ruhe!"

Zehn Minuten darauf: Drei andere Zeugen sehen die junge Frau in einer kleinen Gruppe. Ihnen fällt ein Mann nahe bei ihr auf. Ein 1,80 Meter-Typ. Mollig. Ein schwarzer Spitzbart am Kinn. Ermittler sammeln später Indizien, auch "Spitzbart" könnte der Death-Metal-Szene zugehören. "Spitzbart" wird zur einer eigenen Fährte unter den 800, die verfolgt werden.

Eltern waren beunruhigt

Um 4.13 Uhr, das ergibt die Funkzellenauswertung, telefoniert Tanja zum letzten Mal mit Andreas. Danach: Keine Spur mehr. Oder doch noch? Unten im Tal, vielleicht gegen 5 Uhr am grauenden Morgen, wollen immerhin fünf Zeugen unabhängig voneinander Hilferufe, ja, Schreie einer Frau gehört haben. So etwa aus der Richtung, in der 2015 Tanjas sterbliche Überreste gefunden werden.

Dass die Tochter nicht nach Hause gekommen ist, beunruhigt die Eltern Stunden später. Sie rufen beim überraschten Andreas an. Er glaubte Tanja längst in Korlingen. Die Polizei wird alarmiert. Es setzt die Großfahndung ein. Hundertschaften. Hubschrauber. Drohnen. Aus der Luft suchen die Fahnder nach Kleidungsstücken. In Belgien wird nach Zusammenhängen mit einem Serienmörder gefahndet. Nichts.

Auch am Hang des Roten Felsens, so wird später die zuständige Einheit K 11 sagen, haben sie versucht zu graben. Da war das Gestrüpp hinderlich. Eine Woche später kommt es zu Hausdurchsuchungen in dieser Umgebung. 17 der 60 Gebäude des Stadtteils Pallien werden gefilzt. Ausgerechnet den Appartement-Komplex lassen die Polizisten außen vor, hinter dem Tanjas Schädel gefunden werden sollte.

Polizeibekannter Verdächtiger

Eineinhalb Jahre nach dem Verschwinden und dem Anlegen von insgesamt 200 Aktenordnern räumt die Ermittlungskommission ein: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es zwischen 4.15 Uhr und 4.45 Uhr zu einem unbekannten Geschehensablauf gekommen." So steht es in ihrem Abschlussbericht. Keine Leiche. Kein Täter. Noch nicht einmal, ob es Unfall oder Mord war.

Dem Kriminalhauptkommissar Günter Deschunty, Mitglied dieser Kommission, ist wahrscheinlich schon zu diesem Zeitpunkt nicht wohl gewesen. 2011 erhält er über eingesandte Fotos vom damaligen Hochschulfest Informationen über den "Spitzbart". Der Mann ist in seiner Heimat, dem Saarland, polizeibekannt. Gefährliche Körperverletzung, Beleidigung. Hausfriedensbruch.

Deschunty gibt die Hinweise an die vorgesetzten Dienststellen. Der Mann wird vernommen. Er kenne Tanja nicht, sagt er nach Medienberichten. Wo er in der Feier-Nacht war? Jetzt verwickelt er sich in Widersprüche. Zuerst will er ins Saarland zurückgefahren sein. Dann besinnt er sich: Nein, er habe in seinem Volvo am Moselufer übernachtet. Konsequenzen hat das wacklige Alibi nicht.

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Ermittlungen eingestellt

2014, der Hauptkommissar Deschunty ist inzwischen pensioniert, packt er seinen gesamten Unmut in einen Leserbrief an die Lokalzeitung "Volksfreund": Die Ermittlungen hätten zu einem "nicht akzeptablen Abschluss" geführt. Es habe interne Spannungen gegeben. "Seit nunmehr vier (!) Jahren verzögern und blockieren eine Handvoll Verantwortliche wichtige Ermittlungen in dieser Spur." Das ist harter Tobak.

Die Staatsanwaltschaft schlägt zurück. Sie eröffnet 2017 ein Verfahren gegen den Ex-Kollegen. Wegen Geheimnisverrats. Fast zeitgleich werden die Ermittlungen in der Todessache Tanja Gräff eingestellt. Man hat das Bundeskriminalamt ein Gutachten anfertigen lassen, mit Gummipuppen Sturzversuche am Hang unternommen, aber: "Die Ermittlungen haben keine belastbaren Hinweise erbracht, dass Tanja einer Straftat zum Opfer gefallen ist", sagt der Oberstaatsanwalt Peter Fritzen. Die Bilanz, fast genau ein Jahrzehnt nach ihrem Tod: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit" ein Unfall, ein Sturz vom Felsen, kein Fremdverschulden. Die Akte wird geschlossen.

Wie starb Tanja wirklich? Warum wurde ihre Leiche erst nach Jahren gefunden, als jeder DNA-Abgleich scheitern musste und selbst Würgemale am Hals nicht mehr erkennbar sein konnten? Auch: Stürzte sie tatsächlich über den 1,20 Meter hohen Zaun oben am Roten Felsen, den es schon 2007 gab? Was war mit den Hilfeschreien in der Nacht? Was bleibt von der "Spur Spitzbart"?

Für Freunde der toten Studentin, für Deschunty und Detlev Böhm, den Anwalt der Familie, sind solche Fragen bis heute nicht gelöst. Da sind die ungeklärten Hinweise in die Death-Metal-Szene und die silberne Zigarettenschachtel neben dem Schädelfund, die nicht zugeordnet werden konnte. Der pensionierte Polizist, so ist schon aus seinem Leserbrief von 2014 herauszulesen, glaubt an eine Verbindung zwischen dem Unbekannten, der "Lass Tanja in Ruhe" rief, und dem Saarländer, den Deschunty für einen wichtigen Zeugen, wenn nicht sogar für einen Täter hält. Tanja muss beide gekannt haben. Und ein Phantombild des "Spitzbart", das es laut Deschunty gab: Warum wurde es nie veröffentlicht?


Die Mutter hat Tanja in Korlingen neben ihrem verstorbenen Mann Karl-Heinz beigesetzt. Freunde haben für die Kommilitonin am Fundort der sterblichen Überreste im Trierer Stadtteil Pallien eine kleine Gedenkstätte errichtet. Anwalt Detlev Böhm vertritt Waltraud Gräff nach wie vor. Mit einem Antrag auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens hält er sich derzeit zurück. Er warte auf neue Erkenntnisse, auf Zeugen, die sich melden, sagte er t-online.de. Aber: "Ich gebe nicht auf. Häufig kommt doch Kommissar Zufall zur Hilfe."

Verwendete Quellen
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