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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Betroffene berichten Was, wenn auch die dritte Corona-Impfung nicht wirkt?
Die Corona-Pandemie hat durch Impfungen für viele Menschen ihren Schrecken verloren. Doch nicht jeder kann sich impfen lassen, bei anderen bleibt das Mittel ohne Wirkung. Wie blicken Betroffene auf die kommenden Monate?
Es gibt einen Satz, den viele Corona-Experten und Gesundheitspolitiker in den vergangenen Monaten gern benutzt haben. "Impfung oder Infektion – das ist die Wahl für jeden Einzelnen", sagte etwa Gesundheitsminister Jens Spahn im Juni. "Wer sich jetzt beispielsweise aktiv dagegen entscheidet, sich impfen zu lassen, der wird sich unweigerlich infizieren", sagte Virologe Christian Drosten. "Dieses Virus wird auf Dauer jeden Deutschen infizieren, der nicht geschützt ist durch eine Impfung", lautet die Version des Präsidenten des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler.
Die einfache Formel "Impfung, sonst Infektion" dient gleichermaßen als Motivation und Drohkulisse für Impfmuffel. Das Problem ist nur: Für viele Menschen geht diese Rechnung nicht auf.
Aufgrund von Vorerkrankungen ist es vielen gar nicht möglich, sich impfen zu lassen. Andere haben trotz vollständiger Impfung kaum oder gar keine Antikörper gegen das Virus entwickelt. Zu den Risikogruppen zählen dabei Menschen mit Autoimmunerkrankungen, Krebspatienten oder Menschen, denen Organe transplantiert wurden.
Gefahr von schweren Krankheitsverläufen
Gefährdet ist beispielsweise Sandra Zumpfe. Ihr wurden gleich zwei Organe gespendet: Aufgrund eines angeborenen Herzfehlers lebt sie seit 2013 mit einem Spenderherz. Infolge der Operation wurden allerdings ihre Nieren so stark geschädigt, dass sie auf eine erneute Spende angewiesen war. Vor vier Jahren erhielt Zumpfe von ihrem Ehemann eine Niere.
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Transplantierte müssen sich ohnehin stärker vor Infektionen schützen: Damit die fremden Organe nicht abgestoßen werden, schlucken sie dauerhaft immunhemmende Medikamente. Dadurch schwächen sie aber auch ihr eigenes Abwehrsystem, sodass sie generell anfälliger für schwere Krankheitsverläufe aller Art sind. "Ein Herz und eine Niere sind ein Geschenk. Deshalb ist es für mich klar, dass ich das nicht aufs Spiel setze", sagt Zumpfe t-online.
Drei Impfungen ohne Effekt
Menschen mit Spenderorganen zählen auch in der Corona-Pandemie zu den Risikogruppen. Zumpfe gehörte deshalb zu den ersten, die sich in Deutschland gegen das Coronavirus impfen lassen konnten: Sehr glücklich sei sie gewesen, als sie im Februar ihre erste Spritze mit dem Impfstoff von Astrazeneca erhielt, im Mai folgte die zweite Impfung mit dem Vakzin von Biontech.
Sechs Wochen später folgte die Enttäuschung. Ein Test zeigte, dass sich keine Antikörper gegen das Coronavirus gebildet hatten. Ihre Kardiologin empfahl ihr eine dritte Impfung Anfang Juli. Doch auch der nächste Test zeigte keine Verbesserung.
"Für mich ist es so, als wäre ich ungeimpft", sagt Zumpfe. "Ich kann mich nur schützen, indem ich zu Hause bleibe." Abgesehen von ihrem Mann habe die 43-Jährige seit Beginn der Pandemie kaum Kontakt zu anderen Menschen. Da ihre engen Freunde und Familienmitglieder erfolgreich geimpft werden konnten, traut sie sich inzwischen, wieder mehr Menschen zu treffen.
Auf den Impfschutz allein verlässt sich Zumpfe allerdings nicht: "Die Familie meines Mannes hatte eine Woche Kontakt zu niemandem, damit sie mich treffen konnten." Sie könne sich zum Glück selbst gut beschäftigen, trotzdem fehle ihr der Vor-Corona-Alltag – und ohne Impfschutz müsse sie in einer Art Dauerlockdown verharren.
Corona-Maßnahmen bilden Situation nicht ab
Neid gegenüber vollständig Geimpften, die wieder mit weniger Einschränkungen leben, empfindet Zumpfe allerdings nicht. Es sei gut, dass viele wieder ein Stück ihrer Freiheit zurückerhalten. Mit der generellen Corona-Politik ist sie trotzdem nicht einverstanden: "Wer sich durch eine Impfung nicht schützen kann, wird allein gelassen."
Es fehle den Entscheidern das grundsätzliche Verständnis für Menschen in ihrer Situation: Als dreifach Geimpfte habe sie etwa keinen Anspruch mehr auf kostenlose Schnelltests. Die entsprechende Ausnahmeregelung beziehe sich nur auf Menschen, die sich gar nicht impfen lassen können.
Zu dieser Gruppe gehört Stefan Müller*. Der 36-Jährige aus Nordrhein-Westfalen leidet an der chronischen Entzündungskrankheit Morbus Crohn, die durch Schübe von Darmkrämpfen und Durchfall geprägt ist. Heilen lässt sich die Krankheit nicht. Mit entsprechender Behandlung lassen sich aber Ausmaß und Anzahl der Schübe verringern.
Ärzte raten wegen Krankheit von Impfung ab
Dass Müller sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen sollte, erfuhr er im vergangenen Juni. Ohne Vorwarnung machte sich plötzlich seine Krankheit bemerkbar: "Der Schub kam aus dem Nichts." Müller landete für eine Nacht auf der Intensivstation, anschließend erhielt er neue Medikamente – und eine Empfehlung: "Drei Ärzte rieten mir davon ab, mich gegen das Virus impfen zu lassen." Auf der einen Seite befürchteten die Mediziner eine besonders starke und lange Impfreaktion, etwa Fieber und Schüttelfrost. Gleichzeitig sei es aber auch möglich, dass ein erneuter Krankheitsschub ausgelöst werden könnte.
Hinzu kommt: Menschen mit Müllers Krankheitsbild besitzen ebenfalls ein erhöhtes Risiko, dass sich nach einer Impfung keine Antikörper bilden. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des Universitätsklinikums Erlangen im Mai. In der Untersuchung blieb bei zehn Prozent der Menschen mit chronischen Entzündungserkrankungen wie etwa Morbus Crohn eine vollständige Corona-Impfung ohne Wirkung. Unter gesunden Probanden war dies nur bei einem Prozent der Fall.
Weniger Kontakte im Winter
Für Müller ist die Entscheidung gegen die Spritze daher eine Abwägungsfrage: Eine Impfung sorgt im schlimmsten Fall für starkes Fieber und einen erneuten Krankheitsschub – ohne Garantie, dass er danach besser gegen das Coronavirus geschützt ist.
Müller folgte also dem Rat seiner Ärzte, nahm stattdessen die neuen Medikamente und muss deshalb weiter auf viele Freiheiten verzichten: Um eine Infektion zu vermeiden, geht er nicht in Kinos oder Restaurants. Auch öffentliche Verkehrsmittel meidet er.
Auf der Arbeit kann er sich durch ein Einzelbüro gut abschirmen, an manchen Tagen bleibt er ganz zu Hause. Freunde trifft er entweder draußen oder nur nach Impfung und negativem Coronatest: "Mir ist es unangenehm, dass sich mein Freundeskreis häufig nach mir richten muss." Für den Winter geht Müller davon aus, dass er seine Kontakte noch weiter reduzieren wird.
2G-Regeln erschweren Alltag
Erschwert wird sein Alltag durch die wachsende Zahl an Orten, die nur Geimpften oder Genesenen Zutritt gewähren: Gerade erst musste er ein geplantes Essen mit einem seiner Kunden in Hamburg absagen. Da in dem Restaurant die 2G-Regel gilt, hat Müller keinen Zutritt.
Solche Situationen erlebe er in den jüngsten Wochen immer häufiger: Er spricht von einem Mehrklassensystem, das sich zunehmend in Deutschland auftue. Seine Situation werde von der Politik kaum berücksichtigt: "Man fühlt sich vergessen und abgehängt."
Verzweifelt wirken allerdings weder er noch Sandra Zumpfe. "Irgendwann wird es auch für mich eine Lösung geben", ist Zumpfe überzeugt. Stefan Müller will Anfang des Jahres mit seinen Ärzten entscheiden, ob er möglicherweise die Medikamente absetzen und sich impfen lassen kann.
Zudem machen bisher noch unveröffentlichte Ergebnisse einer Folgestudie des Uniklinikums Erlangen Hoffnung: Einer der Studienleiter teilte t-online mit, bei Menschen mit Entzündungserkrankungen, bei denen zwei Corona-Impfungen keine Wirkung zeigten, habe eine dritte Impfung bei 80 Prozent der Probanden zu Erfolgen geführt. Stefan Müller nennt die Ergebnisse einen schönen Lichtblick.
*Name von der Redaktion geändert.
- Eigene Recherchen
- Interview mit Sandra Zumpfe am 20.10.2021
- Interview mit Stefan Müller am 21.10.2021
- Universitätsklinikum Erlangen: "Gute Impfwirkung trotz Immunerkrankung"