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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Maskenpflicht für Geimpfte? "Ein Impfangebot allein auf dem Papier reicht nicht aus"
Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung würde schon im September die Maskenpflicht streichen. Aus der Politik erhält er nur zaghafte Zustimmung – und viel Gegenwind.
Großbritannien will am 19. Juli den Tag der Freiheit feiern: Trotz stark steigender Infektionszahlen sollen die Corona-Regeln dann weitgehend aufgehoben werden. Dann sollen keine Abstandsregeln, keine Homeoffice- und auch keine Maskenpflicht mehr gelten. "Lernen, mit dem Virus zu leben" nennt der britische Premier Boris Johnson diese neue Phase der Pandemie, in der die Politik die Eindämmung des Virus dem Volk überlässt.
Ein Vorbild für Deutschland? Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sieht es so. Er forderte in der "Bild"-Zeitung ein Ende aller Corona-Maßnahmen spätestens im September – wenn jeder Bürger ein Impfangebot erhalten habe. Dann müssten nahezu alle Corona-Maßnahmen weg, so Gassen, und sagte besonders mit Blick auf die Maskenpflicht: "Jeder kann dann immer noch individuell entscheiden, ob er oder sie weiter Maske tragen will – Pflicht sollte es dann aber nicht mehr sein."
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"Sozialdarwinismus – pfui"
Gassens Aussagen sind hochumstritten. "Sozialdarwinismus in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung – pfui", kritisiert ein Hausarzt auf Twitter mit Blick auf die hohe Zahl derer, die noch nicht geimpft sind oder nicht geimpft werden können. Gassen vertrete ihn nicht. "Wer so stark gegen wissenschaftliche Erkenntnisse agiert, ist ein Wissenschaftsleugner."
Wie aber hält es die deutsche Politik? Wie groß ist der Wunsch nach Normalität, wie groß noch die Vorsicht?
Am weitesten vor wagt sich die FDP. Sie fordert ein Ende aller Corona-Regeln für vollständig Geimpfte und teilt Gassens Forderung größtenteils. Wenn von Personen keine Gefahr mehr ausgehe, müssten Grundrechtseinschränkungen zurückgenommen werden, sagte Christine Aschenberg-Dugnus t-online. Sie ist gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag. "Sobald also allen Impfwilligen ein Impfangebot gemacht werden kann, darf es keine tiefgehenden Freiheitseinschränkungen mehr für vollständig Geimpfte geben."
Aber: Um Schwerkranke und Kinder zu schützen, die nicht geimpft werden können, könne das Tragen einer Maske zum Beispiel im öffentlichen Personennahverkehr weiterhin nötig sein, findet auch die FDP-Gesundheitsexpertin.
"Ablenkung von echten Problemen"
Zur größeren Vorsicht mahnen hingegen Linke und SPD. "Wer davon spricht, ab Herbst die Maskenpflicht für Geimpfte fallen lassen zu wollen, sollte sich davor hüten, falsche Hoffnungen zu wecken und von den echten Problemen abzulenken", sagte Achim Kessler, Sprecher für Gesundheitspolitik in der Linksfraktion, t-online. In öffentlichen Verkehrsmitteln könne nicht zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften unterschieden werden. Nach wie vor fehlten zugelassene Impfstoffe für Kinder und Jugendliche. In strukturschwachen und ländlichen Gebieten mit akutem Ärztemangel würden viele potenziell Impfwillige außerdem noch nicht erreicht.
Die Aufhebung der Maskenpflicht käme deswegen im September zu früh, so Kesslers Fazit: "Ein Impfangebot auf dem Papier allein reicht nicht aus."
Ganz ähnlich sieht es Sabine Dittmar, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD. Bei der Entscheidung sei nicht das Impfangebot oder die Quote der Erstgeimpften entscheidend, sondern die Quote der Vollgeimpften. Nicht vergessen dürfe die Gesellschaft jene, die wie kleine Kinder noch gar nicht geimpft werden konnten oder die wie Menschen unter immunsuppressiver Therapie eine weniger starke Immunantwort auf die Impfung hätten. "Wir brauchen eine sehr hohe Quote von Vollgeimpften, um auch sie durch eine Herdenimmunität ohne Maskenpflicht vor Infektionen zu schützen", so Dittmar.
Deutschland: 39 Prozent vollgeimpft, Großbritannien: 64 Prozent
Derzeit sind in Deutschland rund 39 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, 56 Prozent haben eine erste Spritze erhalten. Die Bundesregierung geht laut Medienberichten davon aus, allen Bürgern vermutlich schon vor Ende September ein Impfangebot machen zu können. Bis die letzten Impfwilligen vollgeimpft sind, wird es dann aber noch einige Wochen dauern.
In Großbritannien sind 86 Prozent der Erwachsenen mindestens einmal geimpft, knapp 64 Prozent genießen bereits vollen Impfschutz. Die Zahl der Neuinfektionen stieg zuletzt stark an, allein am Sonntag wurden 24.000 gemeldet. Fast alle Infektionen gehen dort auf die Delta-Variante zurück, die erstmals in Indien nachgewiesen wurde.
Johnsons Regierung will sich dennoch auf den wachsenden Impfschutz verlassen. Tatsächlich steigen Krankenhauseinweisungen bislang nicht im selben Maße wie die Ansteckungen. Doch auch in Großbritannien ist die Kritik an der neuen, locker leichten Corona-Politik groß.
Der Chef der britischen Ärztegewerkschaft kritisierte, dass das Fallen der Maskenpflicht nicht nachvollziehbar sei. Man setze Menschen wissentlich einem Infektionsrisiko aus. Und der nationale Gesundheitsdienst NHS warnt, dass die Situation in vielen Krankenhäusern nach wie vor "ziemlich angespannt" sei. Ihre einfache Lösung: "Wir wissen, dass Masken funktionieren.“
- Anfrage an Sabine Dittmar, Achim Kessler, Christine Aschenberg-Dugnus
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa