Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kampf um Berlins Rigaer 94 "Wir werden das Haus mit Zähnen und Klauen verteidigen"
Eigentlich sollte nur ein Gutachter den Brandschutz überprüfen, doch dann eskalierte der Konflikt um das Haus in der Rigaer Straße in Berlin. Denn die einen wollen Recht durchsetzen, während die anderen ihre Freiheit bedroht sehen.
Peng, ein Feuerwerkskörper explodiert, peng, peng, Polizisten in Schutzausrüstung retten sich vor Wolken von weißem Pulver auf die Straße. "Ich schubse den Bullen, ich sag 'Ups' zu den Bullen", dröhnt laute Musik aus dem Haus mit der Nummer 94 durch die enge Rigaer Straße in Berlin.
Es ist kurz nach 9.30 Uhr an diesem Donnerstagmorgen. Angespannte Stille ist nun martialischer Musik, dem Knallen von Pyrotechnik und dem Lärm einer Motorsäge gewichen, mit der die Polizei das Eingangstor des Hauses aufbrechen will.
"Einen solchen Einsatz habe ich noch nicht erlebt"
"Einen solchen Einsatz habe ich noch nicht erlebt", sagt ein Polizeisprecher t-online. Die Polizei ist nur zur Unterstützung im Rahmen der Amtshilfe mit Hundertschaften angerückt. Doch in dem von Linken besetzen Haus wird die Polizei schnell selbst zum Angriffsziel. Eigentlich sollte um 8 Uhr ein Brandschutzprüfer das Haus kontrollieren. Auf Anordnung des Bezirksamts. Doch der will nach den Ausschreitungen in der Nacht zuvor mit 60 verletzten Beamten nicht ohne Polizeischutz in das Gebäude.
Die Bewohner selbst hatten am Mittwochmorgen eine "autonome Zone" ausgerufen. Nachdem die Barrikade von der Polizei geräumt wurde, hieß es am Mittwoch: "Wir haben uns ins Haus zurückgezogen." Gleichzeitig drohten die Bewohner jedoch: "Es wird weiter krachen, wir lassen uns nicht vertreiben!"
"Ich kann nachvollziehen, dass der Brandschutzbeauftragte nicht ohne Schutz in das Gebäude will, aber das Bezirksamt war selbst schon einmal in dem Haus und es nichts passiert. Also wieso sollte jetzt etwas passieren", sagt Fritz, der mit einer Freundin außerhalb einer Polizeiabsperrung auf dem Boden sitzt. Ihre echten Namen oder Spitznamen wollen die beiden nicht nennen.
In der Nacht zuvor wurden Barrikaden aufgetürmt und in Brand gesteckt. Polizisten, die sich näherten, wurden mit Steinen beworfen und verletzt.
"Ich werde regelmäßig von der Polizei beleidigt"
Fritz trägt ein schwarzes Shirt, eine schwarze kurze Hose, hat Tattoos am Arm und ein Piercing im Gesicht. Er habe selbst einmal zur Polizei gewollt, sagt er, aber heute sei das anders. Er begründet das mit schlechten Erfahrungen, die er gemacht habe. "Ich habe noch nie eine Straftat begangen, aber werde regelmäßig von der Polizei beleidigt und schikaniert", sagt er. Auch seine Freundin erzählt von alltäglicher Diskriminierung durch die Polizei. So würden sie regelmäßig vertrieben, wenn sie gemütlich ein Bier trinken wollten.
Ob das alles tatsächlich so passiert ist, lässt sich kaum überprüfen. Aber es scheint zumindest die Wahrnehmung der beiden zu sein. Und die hat sie in gewisser Weise radikalisiert: "Das ist keine Polizei, das sind Schläger", sagt sie. Aber rechtfertigt das Gewalt? Darum gehe es nicht, sagen beide. Sie seien hier, weil sie sich für bezahlbare Wohnungen und gegen Diskriminierung einsetzen wollen. Im Rest der Stadt fühlten sie sich nicht mehr sicher. Weil es zu viele Neonazis gebe. "Das Haus ist unsere zweite Heimat", sagt Fritz.
Das Haus, um das es geht, ist bunt bemalt und eines der letzten teilbesetzen Häuser Berlins. Sprüche sind darauf verewigt, große Transparente hängen von den Balkonen herunter: "Unsere Leidenschaft für die Freiheit ist stärker als jede Autorität", "Bekämpft Sexismus, bekämpft Faschismus, gegen das Patriarchat" und "Das ganze Haus hasst die Polizei".
Im ersten Stock sitzen während des Vormittags fast durchgängig zwei Männer zwischen Ende 30 und Mitte 50 gemütlich auf dem Balkon, trinken Kaffee und rauchen Zigaretten. Auch dann noch, als sich am Balkon gegenüber vermummte, junge Männer offenbar für eine Eskalation bereit machen. Mit Wolldecken und Tüchern wird der Balkon verhängt, Vorhänge werden heruntergerissen.
Verhandlungen sind gescheitert
Es riecht nach Rauch. Aus einem Fenster im vierten Stock qualmen grüne und rote Bengalos. Aus einem Fenster im Erdgeschoss klettert eine junge Frau. Sie trägt einen Einteiler mit kurzer Hose, Sonnenbrille und einen großen Strohhut. Ein Outfit, dass besser zum Strand als zu den Polizisten in Kampfuniform passt, die sich an der Hauswand mit Schlagstöcken und Schilden postiert haben.
Mit einem Anwalt der Bewohner geht die junge Frau auf die Polizisten zu. Es wird diskutiert. Sie hat offenbar Sorge, dass die Polizei ihre Wohnung betreten könnte. Der Polizist, der mit ihr spricht, versichert, dass nur der Brandschutzprüfer in die Wohnung geht. Er wirkt leicht genervt. Der Einsatz dauert bereits über eine Stunde, ohne dass etwas passiert ist.
Um 9.30 Uhr sind die Verhandlungen zwischen Brandschutzprüfer, Bezirksverwaltung und Bewohnern offiziell gescheitert. Aus Lautsprechern des Hauses wird eine Botschaft der Internationalen verlesen: "Wir werden das Haus mit Zähnen und Klauen verteidigen." Und eine Drohung wird hinterhergeschickt, sollte die Polizei in das Haus vordringen: "Wir werden die Stadt der Reichen angreifen. Auf einen heißen Sommer."
"Bullenschweine raus aus der Riga"
Danach rücken die Einsatzkräfte mit Rammbock und Kettensäge an, um die Tür zu öffnen. Von der Seite sind Sprechchöre zu hören. Demonstranten skandieren: "Bullenschweine raus aus der Rigaer." Das Tor ist offen, die ersten Polizisten gehen hinein. Sie werden mit Feuerlöschpulver, Pyrotechnik und Farbbeuteln attackiert. "Acht Beamte haben Atemwegsreizungen, andere Knalltraumata", sagt der Polizeisprecher kurz darauf. Eine zweite Tür ist im Weg, es dauert lange, sie zu öffnen, währenddessen versucht ein Trupp über den Hof des Nachbargebäudes vorzudringen.
"Die Polizei wird von uns mit Obst und Farbe beworfen. Sie müssen mit Widerstand rechnen", verkünden die Bewohner über Lautsprecher. Immer wieder laufen mit weißer und grüner Farbe bespritzte Polizisten aus dem Gebäude raus und müssen Gesicht und Uniform von Feuerlöschpulver befreien. Das Pulver löst Reizungen in Atemwegen und auf der Haut aus.
"Überall sind nur Bonzen"
"Das ist eine Gegenreaktion auf die Polizei", sagt Torsten, einer der Demonstranten hinter der Absperrung. "Steine werfen geht nicht, aber Farbbeutel tun niemandem weh", sagt er und verschweigt, dass auch auf Polizisten geworfene Farbbeutel eine Straftat sind. Torsten ist einer der wenigen Versammelten, die bereit sind, zu sprechen. Die meisten wollen nicht mit der Presse reden. Auch für Torsten geht es hier um mehr als ein Haus. "Es geht um Freiräume, überall sind nur Bonzen. Selbstverwalteten Wohnraum sollte es mehr geben."
Die Demonstranten, die an diesem Morgen an die Rigaer Straße gekommen sind, sind sich einig: Sie halten die Brandschutzprüfung für vorgeschoben. Tatsächlich wolle der Eigentümer die Räumung. Für einige der Wohnungen in dem Gebäudekomplex mit 30 Wohnungen gibt es Mietverträge. Doch es ist nicht gesichert, wer tatsächlich in dem Gebäude wohnt.
Plötzlich wird es wieder ruhig
Die Polizei versichert dagegen, dass sie aktuell nur die Freiflächen absichern will. Nur, wenn Tatverdächtige von Angriffen gegen die Einsatzkräfte in einer Wohnung ausgemacht werden, kündigt die Polizei an, Wohnungen betreten zu wollen. Ein Polizist trägt einen etwa drei Meter langen Holzbalken aus dem Gebäude. Viele Bereiche wurden von den Bewohnern verbarrikadiert, weshalb die Einsatzkräfte nur langsam vorankommen.
Aus dem Lautsprecher gibt es eine letzte Ansage: "Die Polizei ist im Vorhaus. Wir werden die Musik und die Berichterstattung nun einstellen." Dann wird es ruhig. Vor dem Haus warten Polizisten, während ihre Kollegen im Innern vorrücken. Bengalos und Feuerwerkskörper werden nicht mehr gezündet. Nur noch vereinzelt stimmen Demonstranten Sprechchöre gegen die Polizei an.
Am Mittag betritt der Brandschutzexperte schließlich das Gebäude. "Gerade begutachtet der sogenannte Experte in Begleitung der bezirklichen Expertin den Brandschutz. Die Polizei hat die Treppenhäuser besetzt, es gab keine Auseinandersetzungen innerhalb des Hauses. Menschen sind in Wohnungen und wurden bisher nicht behelligt", schreiben die Bewohner auf Twitter. Der Einsatz wurde laut Polizei kurz nach 17.00 Uhr beendet.
- Eigene Beobachtungen und Gespräche vor Ort
- Taz: Briefkastenfirma ohne Briefkasten
- Twitter: Rigaer 94