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Nach Explosion – Wut und Verzweiflung in Beirut: "Ihr seid alles Mörder"


"Ihr seid alles Mörder"
Nach der Katastrophe herrschen Wut und Verzweiflung in Beirut

Von dpa, aj

Aktualisiert am 07.08.2020Lesedauer: 5 Min.
Eine Frau vermisst nach der Explosion ihren Sohn: Beirut versinkt in Verzweiflung und Wut nach der verheerenden Katastrophe.Vergrößern des Bildes
Eine Frau vermisst nach der Explosion ihren Sohn: Beirut versinkt in Verzweiflung und Wut nach der verheerenden Katastrophe. (Quelle: Hussein Malla/ap)

Nach der verheerenden Explosion verlangen die Betroffenen Antworten: Was war der Auslöser? Viele Libanesen sind wütend – und machen die Regierung verantwortlich. Ein Überblick.

Verzweiflung und Wut in Beirut: Bei einer Tour durch eine zerstörte Gegend im Zentrum der Hauptstadt des Libanon wurde Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron am Donnerstag (Ortszeit) von wütenden Anwohnern empfangen. "Warum sind Sie gekommen?", riefen einige von Balkons herunter. "Ihr seid alles Mörder", schrie eine Frau unter Tränen. "Wo waren Sie gestern? Wo waren Sie am Vortag? Wo waren Sie, als diese Bomben im Hafen gelagert wurden?" Andere beschimpften den libanesischen Präsidenten Michel Aoun als "Terrorist". Wütenden Libanesen versprach Macron auf der Straße, am 1. September wiederzukommen.

Auch kam es zu Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Demonstranten. In einer durch die Detonationen verwüsteten Straße nahe des Parlaments setzten die Sicherheitskräfte am Donnerstag Tränengas gegen Demonstranten ein. Protestierende hätten Steine auf die Einsatzkräfte geworfen und Geschäfte beschädigt, meldete die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA. Einige Demonstranten seien bei dem Einsatz der Sicherheitskräfte verletzt worden.

Libanon steckt auch in einer schweren Wirtschaftskrise

In Beirut hatte eine heftige Detonation am Dienstag große Teile des Hafens zerstört und ganze Straßen im Zentrum in Scherben und Trümmer gelegt. Bei der Spekulation um das Ammoniumnitrat richtet sich der Verdacht auf das unter moldauischer Flagge fahrende Frachtschiff "Rhosus", das 2013 große Mengen der gefährlichen Substanz in den Hafen gebracht haben soll.

Viele Libanesen sehen die verheerenden Explosionen als Beleg für die Inkompetenz der Regierung – ein Vorwurf, der in der libanesischen Bevölkerung weit verbreitet ist. Schon vor der Katastrophe hatte es immer wieder Demonstrationen gegen die Regierung gegeben, der viele Bürger auch Korruption vorwerfen. Der Libanon steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Die Krise war in den vergangenen Monaten durch die Corona-Pandemie verschärft worden.

16 Hafenmitarbeiter sind verhaftet worden

Zwei Tage nach der Explosionskatastrophe sind nun 16 Mitarbeiter des Hafens der Mittelmeer-Metropole festgenommen worden. Das teilte der amtierende Militärrichter Fadi Akiki laut einem Bericht der staatlichen libanesischen Nachrichtenagentur NNA am Donnerstagabend mit. Mehr als 18 Menschen seien befragt worden, darunter Mitglieder des Hafenvorstands und der Zollverwaltung. Die Zahl der Toten stieg derweil laut Gesundheitsministerium auf 149.

Die Ermittlungen gingen weiter, hieß es. Ziel sei, "alle Fakten im Zusammenhang mit der Katastrophe zu klären", teilte Akiki mit. Der Ort der Explosion – ein Industriegebiet am Hafen im Norden der libanesischen Hauptstadt - werde bis zum Abschluss der Ermittlungen geschlossen bleiben. Die Aufsicht hätten hier die libanesische Armee sowie die Informationsabteilung der Kräfte für innere Sicherheit.

Zuvor waren bereits mehrere Verantwortliche des Hafens unter Hausarrest gestellt worden. Sie sollen in den vergangenen Jahren für die Lagerung und Bewachung der großen Mengen Ammoniumnitrat zuständig gewesen seien, die bei dem Vorfall möglicherweise explodierten. Unklar blieb dabei, welche Vorwürfe ihnen gemacht werden oder ob ihnen ein ordentliches Gerichtsverfahren droht.

Deutsche Diplomatin verlor ihr Leben

Auch eine deutsche Diplomatin wurde getötet, wie Bundesaußenminister Heiko Maas mitteilte. "Unsere schlimmste Befürchtung hat sich bestätigt. Eine Angehörige unserer Botschaft in Beirut ist durch die Folgen der Explosion in ihrer Wohnung ums Leben gekommen", erklärte er. "Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts sind in tiefer Trauer um die Kollegin."

Schon bald nach der schweren Detonation am Dienstag hatte es Rufe nach einer umfassenden Untersuchung und Aufarbeitung des Vorfalls gegeben, bei dem Tausende verletzt wurden und bis zu 300.000 Menschen ihr Zuhause verloren. Zugleich wurden Forderungen nach einer unabhängigen, internationalen Ermittlung lauter. Diesen schlossen sich vier frühere libanesische Ministerpräsidenten und der führende drusische Politiker Walid Dschumblatt an.


Macron forderte bei seinem Besuch mit deutlichen Worten Maßnahmen gegen die ausufernde Korruption im Land. Der Libanon müsse mit "starken politischen Initiativen" gegen die Korruption und die Undurchsichtigkeit des Bankensystems zu kämpfen, wie der 42-Jährige laut Aufnahmen des französischen Senders BFMTV. Die "politische, moralische, wirtschaftliche und finanzielle Krise" müsse mit "extrem schnellen Reaktionen" bewältigt werden. Der Libanon war früher Teil des französischen Mandatsgebiets im Nahen Osten, die beiden Länder sind immer noch eng verbunden. In Frankreich leben heute zahlreiche Libanesen.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) warnte vor einer weiteren politischen Destabilisierung des Libanon als Folge der Katastrophe. Es gebe im Land bereits nicht-staatliche, aus dem Ausland finanzierte Akteure wie die schiitische Hisbollah, die ein entstehendes Vakuum nutzen könnten, sagte Maas der "Saarbrücker Zeitung". Die Katastrophe berge deshalb das "hohe Risiko", den Libanon "weiter zu destabilisieren".

Bundeswehr beginnt Hilfseinsatz

Die Hilfe Deutschlands sowie anderer Länder und internationaler Organisationen lief unterdessen weiter an. Die Weltgesundheitsorganisation brachte 20 Tonnen Hilfsgüter ins Land, um Hunderte Menschen mit Brand- und anderen Verletzungen zu versorgen. Die EU sagte Nothilfe in Höhe von mehr als 33 Millionen Euro zu, um etwa medizinische Ausrüstung zu finanzieren. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel riefen zu einer verstärkten Unterstützung des Libanon aufgerufen. Die Vereinten Nationen (UN) wollen mit mindestens neun Millionen Dollar, das sind umgerechnet etwa 7,6 Millionen Euro, Soforthilfe die unmittelbare Not nach der Explosionskatastrophe in der libanesischen Hauptstadt Beirut mindern.

Aus der Türkei, Griechenland, Zypern und Katar traf ebenfalls Hilfe ein. Auch Israel, das mit dem Libanon keine diplomatischen Beziehungen pflegt, will bei der Versorgung von Opfern helfen. Viele Krankenhäuser sind überlastet. Coronavirustests und -behandlungen wurden in mehreren großen Krankenhäusern eingestellt.

Die Bundeswehr begann einen größer angelegten Hilfseinsatz. Die Luftwaffe sollte ein medizinisches Erkundungsteam der Streitkräfte nach Beirut fliegen, auch die Korvette "Ludwigshafen am Rhein" nahm von Zypern aus Kurs auf die Küstenstadt. Nach dpa-Informationen wurde auch der Luftwaffen-Airbus A310 "MedEvac" für den Transport Schwerverletzter bereitgestellt. Geprüft wird zudem, ob ein schnell verlegbares Luftrettungszentrum des Bundeswehr-Sanitätsdienstes im Libanon aufgebaut werden kann. Ein 50 Mitarbeiter starkes Team des Technischen Hilfswerks (THW) traf ebenfalls ein, um mit der Bergung und Rettung zu beginnen.

Rund 100 Menschen noch immer vermisst

Rettungshelfer suchten weiter nach Überlebenden. Im Einsatz waren Armeesoldaten, Mitarbeiter des Roten Kreuzes und Freiwillige. Noch immer werden dem Roten Kreuz zufolge rund 100 Menschen vermisst. "Ich warte hier, ich bewege mich nicht weg", rief eine Frau in Nähe des abgesperrten Hafens. "Mein Bruder arbeitete im Hafen und ich habe von ihm nichts gehört, seitdem es die Explosion gab."

Der frühere Besitzer des Frachtschiffs "Rhosus" wies jegliche Verantwortung zurück. Libanesische Behörden hätten der Besatzung 2013 die Weiterfahrt untersagt, die Ladung als gefährlich eingestuft und beschlagnahmt, sagte der russische Geschäftsmann Igor Gretschuschkin der Zeitung "Iswestija". Nach seiner Darstellung begründete der Libanon damals seine Entscheidung mit fehlenden Dokumenten. Zudem hätten die Behörden Bedenken beim Transport des Stoffes gehabt, sagte er. Er sei nach einer Strafzahlung bankrottgegangen und wisse nicht, wer anschließend für die "Rhosus" verantwortlich gewesen sei.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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