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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wütende Bauern pfeifen Cem Özdemir aus "Man kann den Grünen nicht trauen"
Die Ampel will ihren Haushalt retten und setzt den Rotstift an – ausgerechnet bei den Landwirten. Nun demonstrierten Bauern vor dem Brandenburger Tor.
Noch bevor Cem Özdemir überhaupt die Bühne betritt, ist die Stimmung aufgeheizt. In Sprechchören fordern die Bauern vor dem Brandenburger Tor in Berlin Neuwahlen, die Menge skandiert "Ampel weg". Als der Landwirtschaftsminister am Montagmittag schließlich als vierter Redner ins Mikro spricht, ist er kaum zu verstehen. Die Menge pfeift und übertönt den Minister mit Buhrufen.
Die Bauern sind wütend. Denn die Bundesregierung muss für einen verfassungskonformen Haushalt sparen und will dafür Steuervergünstigungen der Bauern streichen, etwa die Energiesteuer für Diesel, die sie sich bislang teilweise zurückerstatten lassen können. Land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge sollen zudem 2024 nicht mehr von der Kfz-Steuer befreit sein. Glaubt man dem Bauernverband, kosten die Maßnahmen die Landwirtschaft fast eine Milliarde Euro.
Zu Tausenden sind an diesem Morgen daher Bauern mit ihren Traktoren quer durch Berlin bis zum Brandenburger Tor gerollt. Der Deutsche Bauernverband hat zu der Kundgebung "Zu viel ist zu viel! Jetzt ist Schluss!" aufgerufen, 6.600 Landwirte sind nach Einschätzung der Polizei gekommen, mit rund 1.700 Traktoren. Mehr dazu lesen Sie hier.
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hatte zwar sofort, als die Sparmaßnahmen bekannt geworden waren, diese kritisiert und sich auf die Seite der Bauern geschlagen. Doch vor dem Brandenburger Tor hilft ihm das an diesem Morgen nicht viel. Gegen die Pfiffe und Buhrufe betont er nun erneut, dass er nichts von den Streichungen hält. Er ruft ins Mikro: "Deshalb kämpfe ich im Kabinett dafür, dass es in dieser Härte nicht kommt." Özdemir hat trotzdem keine Chance gegen den Lärm: Seine Rede geht in "Ampel weg"-Rufen unter, Bauernpräsident Joachim Rukwied muss eingreifen.
"Das Vertrauen in die Koalition ist weg"
Dass die Bundesregierung gerade bei ihnen sparen will, halten die Bauern vor dem Brandenburger Tor – gelinde gesagt – für eine Frechheit. Ein Landwirt, der anonym bleiben möchte, ist aus der Nähe von Bielefeld angereist. Er rechnet es Özdemir zwar hoch an, dass er zu der Demo gekommen ist. Allerdings sei er enttäuscht, dass es überhaupt so weit kommen musste. "Ich hätte mir gewünscht, dass jemand vor dieser Entscheidung mit uns gesprochen hätte", sagt er.
- Bauernprotest in Berlin: Ampel am Galgen – so reagiert die Polizei
Damit trifft er offenbar einen Punkt. Denn das Gefühl, dass die Politik über ihre Köpfe hinweg entscheide und nicht zuhöre, teilen hier viele. "Das Vertrauen in die Koalition ist weg", sagt er. Neuwahlen aber befürworte er nicht, er fürchte, sonst könne die AfD zu stark werden.
Ein Ehepaar aus Nordhessen ist da anderer Meinung: "Man kann den Grünen nicht trauen", sagt der Mann. Das Paar will Neuwahlen und hofft auf eine Große Koalition. "Ich wäre dafür, dass Kanzler Scholz nun die Vertrauensfrage stellt", sagt die Frau. "Aber die Politiker haben Angst, dass sie ihren Kopf verlieren. Dabei haben sie ihr Gesicht schon längst verloren." Beide können zwar nachvollziehen, dass gespart werden muss. "Aber nicht bei den Landwirten", sagt sie. "Dann doch lieber bei den Diäten der Politiker."
Umweltverbände begrüßen die Streichung
Auch Özdemir argumentiert, dass die Streichung die Bauern unverhältnismäßig treffe. Die Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Bauern würden sich "quasi auf einen Schlag" verschlechtern", hatte er schon morgens im ARD-"Morgenmagazin" gesagt. Zudem gebe es für die Landwirte keine Alternativen. "Wir reden über schwere Maschinen, die kann man nicht einfach auf Elektro umrüsten." Finanzminister Christian Lindner (FDP) habe er daher alternative Sparvorschläge gemacht, hatte Özdemir schon zuvor angekündigt.
Umweltverbände äußern dagegen großes Verständnis für die Streichungen. Für Greenpeace etwa sind sie verschmerzbar: "Bei allem Verständnis für die Bauern und Bäuerinnen – Agrardiesel staatlich zu verbilligen ist teuer, klimaschädlich und gehört abgeschafft", sagte Greenpeace-Landwirtschaftsexperte Martin Hofstetter.
Die Bauern in Berlin sehen sich dagegen in ihrer Existenz bedroht. Mehr als 10.000 Euro Mehrkosten werde er im kommenden Jahr wegen der Streichungen haben, sagt der Bauer aus der Nähe von Bielefeld.
Bauernpräsident Joachim Rukwied kündigt deshalb einen heißen Winter an, sollte die Bundesregierung die Steuererleichterungen für die Landwirtschaft tatsächlich streichen. "Wir nehmen das nicht hin", sagt Rukwied. "Dann werden wir ab 8. Januar überall präsent sein in einer Art und Weise, wie es das Land noch nicht erlebt hat." Was das genau bedeutet, lässt Rukwied vor dem Brandenburger Tor offen.
- Reporter bei Demonstration am Brandenburger Tor
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa