Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Eskalation auch an deutschen Unis? Jüdische Studierende werden eingeschüchtert
In den USA streiten sich vor allem Studierende wegen des Nahostkonflikts. Mittlerweile auch gewalttätig. Droht das auch an deutschen Universitäten?
Gaza, das "neue Auschwitz", der jüdische Staat begehe einen "Holocaust" gegen die Palästinenser und Palästinenserinnen – nur eine kleine Auswahl dessen, was man hier so auf Stickern findet.
Ganze Straßenzüge im Universitätsviertel von Toronto sind mit anti-israelischen und antisemitischen Parolen gepflastert. Auf Plakaten wird zur Intifada aufgerufen, die Poster der israelischen Geiseln in Hamas-Gefangenschaft werden abgekratzt, jüdische oder vermeintlich jüdische Geschäfte wie etwa Starbucks oder McDonald's werden markiert und Schmierereien fordern "no mercy 4 Zionists" ("keine Gnade für Zionisten").
Diese bereits sehr aufgeheizte Atmosphäre erlebte ich im November, knapp einen Monat nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei meinem Besuch in der kanadischen Metropole. Ich habe dort jüdische Studierende getroffen, die mir von ihren "Bedenken" erzählten, "sich öffentlich als jüdisch zu erkennen zu geben" und dass "neun von zehn Personen verängstigt" seien. Eine Entwicklung, die sich im Zuge des fortlaufenden israelischen Krieges gegen die islamistische Terrororganisation Hamas noch verschlimmern sollte. Wie in den USA besetzten pro-palästinensische Studierende, darunter ebenfalls antizionistische Jüdinnen und Juden, auch in Kanada Universitäten.
- Tagesanbruch zur Eskalation an US-Unis: Die Gefahr ist kaum noch einzufangen
So geschah es beispielsweise an der McGill Universität in Montreal, wo schnell "befreite Zonen" errichtet wurden. Neben Aufrufen zur Intifada, Terrorverherrlichung oder dem Bedrängen von pro-israelischen jüdischen Studierenden, kam es auch zu antisemitischen Parolen. Mit Blick auf die gewalttätigen Ausschreitungen an US-Universitäten wie der Columbia in New York meldete sich die Universität in Toronto zu Wort. Ihr seien Meinungsfreiheit sowie der friedliche Protest wichtig, aber sie toleriere keine "unerlaubten Aktivitäten". Diejenigen, die dagegen verstoßen, würden mit "Konsequenzen" rechnen müssen.
Während meines Aufenthalts wurde mir noch mal bewusst, dass es sich um globale Entwicklungen handelt, wenn sich der Antisemitismus in ein progressives Gewand kleidet oder die Hamas als legitime Widerstandsgruppe angesehen wird. Kein Wunder, sind doch die Diskurse aus dem anglo-amerikanischen Raum auch für Akademikerinnen und Akademiker mancher Fachrichtungen maßgeblich. So hatte es beispielsweise schon Theodor W. Adorno in seinem 1969 veröffentlichten Werk "Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika" festgehalten: "Tatsächlich kann der Rückkehrer unendlich viel in Europa heraufkommen sehen oder bestätigt finden, was ihm in Amerika erstmals auffiel."
Zur Person
Ruben Gerczikow ist Autor und hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Monty Ott verfasster Reportage-Band "Wir lassen uns nicht unterkriegen – Junge jüdische Politik in Deutschland" im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.
So könnte man erklären, dass inzwischen auch der deutsche Ableger von "Students for Palestine" (Studenten für Palästina) am 3. Mai zur Auftaktveranstaltung "zum Anschluss an den globalen Studentenprotest in Solidarität mit den Menschen aus Gaza" an der Universität Köln mobilisiert. Auffällig dabei ist der Zusatz, dass der Protest sich an Studierende und Nicht-Studierende richtet. Das mag daran liegen, dass es zwar seit dem 7. Oktober 2023 zu anti-israelischen Versammlungen an deutschen Universitäten gekommen ist, aber die Größenordnung der Teilnehmendenzahlen kaum an die ihrer nordamerikanischen Kommilitoninnen und Kommilitonen heranreicht.
Auch bei der Hörsaalbesetzung an der Freien Universität Berlin im Dezember 2023 sollen lediglich um die 50 Studierende teilgenommen haben, darunter auch der mutmaßliche Schläger Mustafa A., der den jüdischen FU-Studenten Lahav Shapira im Februar dieses Jahres krankenhausreif geschlagen haben soll. Insgesamt waren im Wintersemester 2023/2024 mehr als 38.000 Menschen an der Freien Universität immatrikuliert.
Anders als im anglo-amerikanischen Raum konnte die Israel-Boykottkampagne BDS als Triebfeder des anti-israelischen Aktivismus an deutschen Universitäten kaum Fuß fassen. Das hat auch mit der institutionellen Solidarität zu tun, die spätestens seit 2019 anhält.
Im Rahmen der ersten deutsch-israelischen Studierendenkonferenz verabschiedeten unter anderem die Jüdische Studierendenunion, das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der freie Zusammenschluss von Student*innenschaften, die Juso-Hochschulgruppen, Campusgrün, der Bundesverband Liberaler Hochschulgruppen und der Ring Christlich-Demokratischer Studenten eine überparteiliche Resolution gegen jeden Antisemitismus und BDS. Lediglich der Sozialistische Deutsche Studentenbund wollte sich nicht daran beteiligen. Einige Monate später verabschiedete auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) einen ähnlichen Beschluss. Ende letzten Jahres erneuerten die HRK und die Kultusministerkonferenz ihre Beschlüsse noch einmal.
Obwohl die Situation an deutschen Universitäten nicht vergleichbar mit der in Nordamerika ist, sorgen sich hiesige jüdische Studierende um ihre Sicherheit. Auf sie wirkt der aggressive Protest von anti-imperialistischen Gruppen wie beispielsweise "Young Struggle", die den Terror der Hamas als legitimen "Befreiungsschlag" bezeichneten, einschüchternd. Auch am Münchener Geschwister-Scholl-Platz ruft das „Unikomitee für Palästina" zu einem Protest vor der Ludwig-Maximilians-Universität auf. Die LMU distanzierte sich bereits im Vorfeld von der Versammlung.
Zwar sind wir in Deutschland noch weit von amerikanischen Zuständen entfernt, doch das sollte nicht zu einer falschen Sicherheit führen. Denn wie Adorno sagte, könnten wir auch hier "bestätigt finden, was ihm in Amerika erstmals auffiel". Universitäten wären gut beraten, die Sorgen ihrer jüdischen Studierenden ernst zu nehmen.
- Eigene Recherche und Beobachtungen