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Lindner und Habeck beklagen Arbeitsmoral: Ist Deutschland wirklich zu faul?


Meinung
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Arbeitsmoral in Deutschland
Zu faul für diese Welt

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

Aktualisiert am 29.10.2024Lesedauer: 5 Min.
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In trauter Harmonie? Lindner und Habeck (Quelle: Carsten Koall/dpa/dpa-bilder)
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Deutschland geht den Bach runter. Die Industrie wandert aus, die Wirtschaft steckt in der Rezession. Weil die Deutschen zu wenig arbeiten? Sind wir faul und bequem geworden?

Schau an, Christian Lindner und Robert Habeck können sich auch mal einig sein – wenn es um die Deutschen und ihre Arbeitsmoral geht. "In Italien und Frankreich wird deutlich mehr gearbeitet als bei uns", stellt Lindner fest, mit tadelndem Unterton. Habeck findet, in Deutschland werde zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt. In Business-Kreisen finden die beiden breite Zustimmung. "Wir müssen wieder lernen, härter zu arbeiten", meint Christian Sewing, der Chef der Deutschen Bank. "Ärmel hochkrempeln", fordert Mercedes-Chef Ola Källenius. Mehr Bock auf Arbeit, weniger Work-Life-Balance! So reden Politiker, so schreiben es die Medien. Es scheint was faul zu sein im Staate Deutschland.

Eine internationale Statistik untermauert diese Forderungen anscheinend eindrucksvoll. Die OECD, eine höchst seriöse Vereinigung der Industrieländer, hat sie veröffentlicht. Danach arbeiten die Kolumbianer im Durchschnitt 2.405 Stunden im Jahr, das ist Weltrekord. Die Amerikaner verbringen 1.811 Stunden im Büro oder in der Fabrik, in der EU liegt der Durchschnitt bei 1.571 Stunden. Ganz unten in der langen Tabelle taucht ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen auf: Deutschland 1.341 Stunden. Schlusslicht. Weltweit.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Ein paar andere Statistiken passen dazu. Die Beschäftigten haben in Deutschland im Schnitt 28 Urlaubstage im Jahr, dazu kommen noch neun bezahlte Feiertage, in Bayern ein paar mehr. Von diesem Freizeitkontingent können amerikanische Arbeitnehmer nur träumen. Und Mercedes-Chef Källenius klagte kürzlich darüber, dass in den deutschen Fabriken der Krankenstand doppelt so hoch sei wie in europäischen Nachbarländern – "unter gleichen Produktionsbedingungen". Also: Die Deutschen feiern zu viel krank, wie man das in meiner Jugend im Ruhrgebiet ausdrückte.

Geht’s uns zu gut? Vorsicht. Die OECD, auf die sich Politiker, Wirtschaftsführer und Medien so gern berufen, veröffentlicht unter ihrer Tabelle einen unscheinbaren, aber wichtigen Hinweis: Für internationale Vergleiche der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit sind diese Daten nicht geeignet. Also genau dafür, wofür sie systematisch verwendet werden. Das liegt an komplizierten methodischen Fragen der Statistik, um die wir uns hier nicht kümmern. Aber vor allem liegt das an der Teilzeitarbeit.

Dafür reichen Grundrechenarten

Wenn zehn Arbeitnehmer jeweils 40 Stunden in der Woche arbeiten, beträgt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 40 Stunden. Wenn drei Arbeitnehmerinnen mit 20 Wochenstunden dazukommen, sinkt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf gut 35 Stunden. Dieses Ergebnis kommt ohne höhere Mathematik zustande, dafür reichen die Grundrechenarten. In Deutschland arbeitet fast ein Drittel der Beschäftigten in Teilzeit, viel mehr als in den USA oder erst recht in Kolumbien. Die hohe Teilzeitquote zieht den Durchschnitt nach unten. Und verzerrt die Statistik.

Ist die Neigung, "nur" Teilzeit zu arbeiten, ein Problem? Vor allem Frauen arbeiten weniger als 100 Prozent, sie verdienen dann auch weniger als Männer und zudem bekommen sie später nur Mini-Renten. Nur lautet die Alternative für viele von ihnen nicht, voll zu arbeiten. Sondern gar nicht. Weil vor allem junge Mütter in den ersten Lebensjahren ihres Kindes nicht ganztags arbeiten wollen. Oder weil sie es nicht können, mangels Kita-Plätzen, mangels Zuverlässigkeit des Betreuungssystems.

Agil hin oder her – der Gegensatz von Kapital und Arbeit bleibt

Und längst geht es nicht mehr nur um Frauen. Für viele Paare ist es selbstverständlich, Arbeitszeiten, Elternzeit und familiäre Verantwortung neu und anders zu verteilen, als frühere Generationen das gewohnt waren. Beide Eltern arbeiten jeweils 80 Prozent, Väter nehmen Elternzeit, nicht nur die zwei berühmten "Vätermonate", Teilzeit in Elternzeit: alles gängige Modelle in der modernen Arbeitswelt. Das ist doch ein gesellschaftlicher Fortschritt, oder? Auch wenn es in der Statistik nach kollektiver Faulheit aussieht.

Apropos moderne Arbeitswelt. In Dax-Konzernen und im Mittelstand diskutiert man unter der Überschrift "New Work" über tiefgreifende Veränderungen in den Betrieben. Es geht um die neue Arbeit in Zeiten der Digitalisierung: Wie sehen die Büros der Zukunft aus? Wie kommuniziert man miteinander? Wie viel Homeoffice ist möglich? Wie wird aus dem autoritären Chef eine gute Führungskraft? Der Trend geht zu mehr Teamarbeit, jeder Einzelne soll weniger Befehlsempfänger sein und stattdessen mehr Verantwortung übernehmen. Agil soll die Arbeitsorganisation sein und flexibel – auch und gerade bei den Arbeitszeiten.

Der alte Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird dadurch nicht aufgehoben. Ja, der zeitkritische Auftrag muss erledigt, Liefertermine müssen eingehalten werden – das sind berechtigte Interessen des Arbeitgebers. Aber die Kinder müssen aus der Kita abgeholt oder die pflegebedürftige Mutter muss betreut werden – das sind berechtigte Interessen der Arbeitnehmer. Viele Unternehmen haben erkannt, dass sie diese Interessen ausgleichen müssen. Weil sie sonst schlechte Chancen im Wettbewerb um den talentierten Nachwuchs und um Fachkräfte aus dem Ausland haben. Und weil sie bei Kununu abgestraft werden – einem Internetportal, in dem Arbeitnehmer Firmen als Arbeitgeber bewerten. Arbeitskräfte sind knapp, deshalb haben sich die Machtverhältnisse verschoben, vom Kapital zur Arbeit.

Was in erfolgreichen Betrieben neue Realität ist, scheint für die Politik unbekanntes Terrain zu sein. Wie eh und je fordern Sozialdemokraten und Gewerkschaften mehr Geld und mehr Freizeit für alle. Früher ging es um den freien Samstag, dann um die 35-Stunden-Woche, heute um die Viertagewoche. Olaf Scholz und sein Arbeitsminister Hubertus Heil stehen dahinter. Finanzminister Christian Lindner natürlich nicht, siehe oben. Und Friedrich Merz beklagt sich über die Einstellung der Deutschen: Arbeit dürfe nicht als unangenehme Unterbrechung unserer Freizeit wahrgenommen werden. Mich erinnert das an einen legendären Spruch von Helmut Kohl, der Deutschland einmal einen "kollektiven Freizeitpark" nannte. Die Arbeitswelt hat sich seit der Ära Kohl grundlegend geändert. Die Politik nicht.

Es stimmt ja, dass der Mangel an Arbeitskräften das Wirtschaftswachstum in Deutschland hemmt. Deshalb ist es richtig, für längere Arbeitszeiten zu werben. Zu werben, nicht sie anzuordnen. Also Anreize setzen und Voraussetzungen schaffen. Die fehlenden Kita-Plätze zum Beispiel sind ein gravierendes Problem für den Arbeitsmarkt. Es ist eins dieser Probleme, über die Regierungen im Bund und in den Ländern seit Jahren klagen. Wie wäre es mit Lösungen?

Die Generation der Boomer geht jetzt in Rente. Sie fehlen im Betrieb. Viele von ihnen würden neben der Rente noch arbeiten, wenn das attraktiv wäre – die meisten in Teilzeit, man will schließlich auch die neue Freiheit im Ruhestand genießen. Warum schöpfen wir dieses Reservoir nicht aus? Und warum stellt sich Deutschland im Wettbewerb um ausländische Fachkräfte immer noch so dumm und überbürokratisch an? Als wären nur die deutsche Lehre im Handwerk und das deutsche Uni-Diplom etwas wert.

Viele, die jetzt über zu kurze Arbeitszeiten reden, meinen in Wahrheit die Arbeitskosten. Die sind in Deutschland hoch, das ist nichts Neues. Solange der Exportweltmeister international erfolgreich war, vor allem in China, solange das billige Gas aus Russland kam, war das kein Problem. Jetzt ist es eins. Trotzdem fordert die IG Metall die Viertagewoche mit vollem Lohnausgleich. Nicht die vier Tage sind das Problem, sondern der Lohnausgleich: Nur noch vier Tage arbeiten, aber für fünf bezahlt werden, das kann nicht gut gehen.

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Geht Deutschland den Bach runter? Das ist hart formuliert, aber ja, die Wirtschaft schmiert ab. Liegt das daran, dass die deutschen Ingenieure, Pflegekräfte und Buchhalterinnen zu faul sind? Nein. Das liegt an hohen Energiepreisen, an der maroden Infrastruktur, an den Steuern, an einem Investitionsstau, der das Land lähmt. Auch an einem ausufernden Sozialstaat. Die Rente mit 63 ist mit Blick auf den Arbeitsmarkt das falsche Signal.

Es gibt also genug Probleme zu lösen. Arbeitnehmern vorzuhalten, sie würden nicht die Ärmel aufkrempeln und sie hätten zu viel Freizeit, ist ein Ablenkungsmanöver. Für die Probleme des Landes sind nicht diejenigen verantwortlich, die arbeiten gehen, egal ob Vollzeit oder Teilzeit. Von diesen Arbeitnehmern gibt es aktuell 35 Millionen in Deutschland, so viele wie noch nie in den vergangenen zwanzig Jahren. Das sind die Menschen, die den Laden am Laufen halten. Etwas mehr Respekt, bitte!

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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