Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Deutschlands Grundgesetz Fünf Jahre habt ihr noch Zeit
In dieser Woche wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Unser Kolumnist widmet der Verfassung eine Festrede. Keine Sorge, es wird nicht salbungsvoll. Stattdessen gibt es Klartext zur Feierstunde.
Verehrte Damen, Herren und alle dazwischen, liebe Altdeutsche, liebe Neudeutsche, geschätzte Senioren und hallo Jugend! Unser Grundgesetz: Wir lieben es, alle loben es. Jedenfalls fast alle. Ein paar knurrige Alt-Sozis finden immer noch, wir hätten 1989/90, als die deutsche Einheit passierte, noch mal von vorne anfangen und eine ganz neue Verfassung schreiben sollen. Wahrscheinlich wäre die heute noch nicht fertig, so deutschgründlich wie wir politische Entscheidungen vorbereiten, ohne sie je zu treffen.
Aber damals haben die Ostdeutschen abgestimmt und entschieden: Wir sind dabei, genau bei diesem Grundgesetz. Das war gut so. Deshalb können wir jetzt gemeinsam den 75. feiern.
Wenn der Herr Bundespräsident, die Frau Bundestagspräsidentin und der Herr Bundeskanzler in diesen Tagen über das Grundgesetz reden, ist ganz viel von Freiheit die Rede, von Demokratie, von den Grundrechten, die jede und jeder von uns hat, weil es diese famose Verfassung gibt. Ja, das ist schön.
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Aber, sehr geehrte Leser- und Userschaft, die Spitzen unseres Staates neigen auch dazu, die Sache etwas schönzureden. Lassen Sie uns deshalb hier, wo wir unter uns sind, offen reden. Sie werden sehen, es hapert an der einen oder anderen Stelle. Im Artikel 3 zum Beispiel heißt es in der unverschnörkelten Sprache von damals: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Das war 1949 eine Vision, keine Beschreibung der Realität. Ehemänner durften das Arbeitsverhältnis ihrer Frau kündigen, sie hatten die letzte Entscheidung in allen Eheangelegenheiten. Sein Name war der Familienname, basta. Erst 1996 (!) wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.
Und heute? Heute sind Frauen und Männer in rechtlicher Hinsicht gleichgestellt, insofern können wir einen Haken an den Artikel 3 machen. In rechtlicher Hinsicht! Im Alltagsleben gibt es aber noch Probleme, und zwar alte und neue.
Fünf Jahre habt ihr noch Zeit
Ein altes Problem: Frauen verdienen weniger als Männer. Auch wenn sie denselben Job machen. Ob der "Gender Pay Gap" nun 18 Prozent beträgt, wie das Statistische Bundesamt sagt, oder 6 Prozent, wie auch das Statistische Bundesamt sagt (einmal rechnet man so, einmal anders), spielt hier keine Rolle. Tatsache ist: Frauen werden oft schlechter bezahlt als Männer, trotz 75 Jahren Artikel 3. Wenn ich Bundespräsident von Deutschland wäre, würde ich Dax-Konzernen, den Hidden Champions im Mittelstand, unseren Handwerksbetrieben und der Start-up-Szene mal eine Ansage machen: Macht euch einen Plan, wie ihr das ändert. Fünf Jahre habt ihr noch Zeit, aber ich möchte zum 80. nicht noch mal darüber reden müssen.
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Ein anderes altes Problem: Frauen leisten mehr Care-Arbeit, wie wir das familiäre Engagement neuerdings nennen. Und im Alter bekommen sie dann systematisch weniger Rente. Das passt nicht zum Grundgesetz. Ich vermute, über ein neueres Problem werden die Spitzen unseres Staates in den nächsten Tagen lieber schweigen.
Deutschland kann anstrengend sein
Darüber zu reden könnte den festlichen Charakter des Jahrestags stören. Also, verehrte Neudeutsche, Noch-nicht-Deutsche und Menschen aller anderen Nationalitäten in unserem Land: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Sagen Sie doch bitte Ihren Jungs, dass die Lehrerin eine Respektsperson ist, deren Wort in der Schule gilt. Wenn am Krankenbett eine Ärztin erscheint, rufen Sie nicht nach einem Arzt. Bei uns sind nicht nur Männer Chefs. Ehefrauen und Töchter entscheiden selbst, was sie anziehen. Sie sind in das Land mit diesem wunderbaren Grundgesetz gekommen, das hat sicher seinen Grund. Frieden, Freiheit, Zukunft: Deutschland hat viel zu bieten.
Aber Deutschland kann auch anstrengend sein. Liebe Gläubige, liebe Ungläubige, die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Das steht im Grundgesetz, Artikel 4. So viele Länder gibt es gar nicht auf der Welt, in denen die Menschen selbst entscheiden können, ob sie in die Kirche gehen oder in die Moschee oder in die Synagoge, zu welchem Gott sie beten, ob ein Buddha sie erleuchtet oder ob spiritueller Schmuck aus dem peruanischen Hochland ihnen Kraft und Energie gibt.
Wir sind gegenüber religiösen Gemeinschaften sehr großzügig, nicht einmal Artikel 3 müssen Sie beachten, solange Sie unter sich sind. Die katholische Kirche beharrt darauf, dass nur Männer Priester sein können, der Imam ist auch selten weiblich. Das können Sie in Ihrer Glaubensgemeinschaft alles so regeln. Aber wenn wir uns dann in unserer großen Gemeinschaft namens Bundesrepublik treffen, dann gelten andere Regeln. Nämlich die des Grundgesetzes. Wer in einem Streitfall recht hat, entscheiden Gerichte, nicht Friedensrichter. Es gilt das Strafgesetzbuch, nicht die Scharia, auch nicht das Alte Testament.
Selbstjustiz unter rivalisierenden Gruppen ist strafbar – egal ob es libanesische Großfamilien oder deutsche Rockerbanden sind. Das Grundgesetz erleichtert das Zusammenleben der Menschen sehr. Man muss es nur beachten. Und seine Werte durchsetzen. Die Meinungsfreiheit ist uns wichtig, der Artikel 5 garantiert sie.
Liebe Linke, liebe Rechte, liebe Gemäßigte und liebe Radikale, Sie dürfen Ihre Anliegen und Ansichten gemeinsam mit Ihren Gesinnungsfreunden auch öffentlich vertreten, das steht im Artikel 8. Aber als hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes schon etwas geahnt, schrieben sie dazu, dass Versammlungen unter freiem Himmel nur friedlich und ohne Waffen erlaubt sind. Ein wichtiger Hinweis. Und dass der Gesetzgeber Regeln aufstellen darf für Demonstrationen und Kundgebungen. Trotzdem sehe ich manchmal, dass Männer in Anzügen, die Nazi-Uniformen täuschend ähnlich sehen, mit Fackeln Aufzüge veranstalten, die Nazi-Aufmärschen ähnlich sehen, und dabei Parolen rufen, die sich anhören wie Nazi-Parolen.
Nötigung von Politikern sieht das Grundgesetz nicht vor
Oder dies: Kürzlich habe ich im Fernsehen wütende Frührentner gesehen, die eine Protestkundgebung vor dem privaten Wohnhaus eines Politikers veranstalteten. Gegen die Politik zu protestieren, ist ihr gutes (Grund-)Recht. Aber das Recht, Angst und Schrecken zu verbreiten, steht nicht im Grundgesetz. Auf Hamburgs Straßen geben neuerdings bärtige Influencer aus dem Internet ihrer Vorliebe für eine Staatsform Ausdruck, die sich Kalifat nennt. Ich weiß nicht, wie Ihr das seht, liebe Instagramer, X-er und TikToker, ich halte nichts davon. Weder vom Kalifat noch davon, dass man dafür in Deutschland demonstrieren darf.
Eigentlich stelle ich mir das so vor: Die Freiheitsrechte, die das Grundgesetz garantiert, gelten für alle – außer für diejenigen, die sie abschaffen wollen. Leute, ich bin Journalist, für meinen Job ist die Meinungsfreiheit der wichtigste Artikel im Grundgesetz. Aber wenn zum Beispiel die Schwulen-, Lesben- und Transbewegung für die Hamas demonstriert, stelle ich mir ein paar Fragen: Übertreiben wir es mit der Freiheit? Lassen wir uns für dumm verkaufen?
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, sagt der Artikel 3 des Grundgesetzes. Es kommt nicht darauf an, woher jemand kommt, wie er aussieht oder wen er liebt. Ein Grundrecht gegen jegliche Diskriminierung. Ausgerechnet Menschen, denen diese Verfassung ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, demonstrieren für die Islamisten.
Das Wichtigste zum Schluss
Zum Schluss der allerwichtigste Artikel des Grundgesetzes, der erste: Die Würde des Menschen ist unantastbar, eine ebenso schlichte wie erhabene Formulierung. Die Würde des Menschen, nicht die Würde der Männer, der Frauen, der Alten oder der Jungen, der Schwarzen oder der Weißen, der Mehrheit oder der Minderheit. Da ist sicher auch die Würde von Menschen jüdischen Glaubens gemeint. Dass jüdische Studenten an deutschen Universitäten nicht mehr ohne Angst studieren können, dass Kippa und Davidstern in der deutschen Hauptstadt ein Sicherheitsrisiko sind, dass jüdische Künstler ausgegrenzt werden, dass deutsche Kulturinstitute das zulassen, das ist doch alles unwürdig.
Der Artikel 1 geht noch weiter: Sie (also die Menschenwürde) zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Warum achtet und schützt unser Staat nicht die Rechte und die Würde der Juden in Deutschland, ganz egal, was gerade im Nahen Osten passiert? Ausgerechnet dieser Staat, der auf den Trümmern der Nazi-Herrschaft gebaut wurde. Die 61 Männer und vier Frauen, die das Grundgesetz 1949 verfassten, wären fassungslos.
Liebe alle, ich wollte Eure und Ihre festliche Stimmung nicht stören. Oder vielleicht doch. Aber nur, weil dieses großartige Grundgesetz auch in den nächsten 75 Jahren Bestand haben soll. Die Verfassung hat einen Anspruch und eine Wirklichkeit. Wer den Anspruch erfüllen will, muss an der Wirklichkeit arbeiten. In diesem Sinne, feiern Sie 75 Jahre Grundgesetz, ich tue es auch. Herzliche Grüße Ihr Elder Statesman
- Eigene Überlegungen