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Selbstbestimmungsgesetz beschlossen: Diese Kritik an der Ampel muss sein


Meinung
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Selbstbestimmungsgesetz
Verlassen von allen guten Geistern

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

16.04.2024Lesedauer: 5 Min.
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Tessa Ganserer und Nyke Slawik im Bundestag: Die trans Frauen der Grünen saßen bei der Abstimmung über das Selbstbestimmungsgesetz in der ersten Reihe. (Quelle: Political-Moments/imago-images-bilder)
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Bald können Sie selbst entscheiden, ob Sie Peter oder Petra sind. Die Ampel feiert die freie Wahl des Geschlechtseintrags als gesellschaftspolitischen Fortschritt. Die Mehrheit der Wähler (m/w/d) fragt sich, ob ihre Regierung den Verstand verloren hat.

Für diese Kolumne gilt das Motto von Albert Einstein: Man sollte alles so einfach wie möglich machen. Aber auch nicht einfacher. Falls Sie also fest davon überzeugt sind, dass es genau zwei Geschlechter gibt und basta, so ist nun mal die Biologie, dann machen Sie es sich zu einfach.

Es gibt Menschen, die sehen aus wie Frauen und haben die Geschlechtsmerkmale von Frauen, bei einer DNA-Untersuchung werden sie trotzdem als Mann identifiziert: sogenannte XY-Frauen, also weibliche Personen mit einem männlichen Chromosomensatz. Es werden Babys geboren, bei denen Ärzte und Geburtshelfer nicht eindeutig sagen können, ob sie einen Penis oder eine Vagina haben. Mädchen entdecken in der Pubertät, dass bei ihnen etwas grundlegend anders ist als bei ihren Freundinnen. Die Medizin kennt viele Phänomene dieser Art: genetische Abweichungen von der Norm, hormonelle Besonderheiten, uneindeutige Geschlechtsmerkmale. Launen der Natur.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Das sind keine neuen Erkenntnisse. Aus der griechischen Mythologie stammt der Begriff des Hermaphroditen: ein Mensch zwischen Mann und Frau, gezeugt von Hermes, dem Götterboten, geboren von Aphrodite, der Göttin der Schönheit. Im Louvre ist seine Marmorskulptur ein Touristen-Highlight. In der Antike, im Mittelalter, bis in unsere Zeit wurden Zwitterwesen auf dem Jahrmarkt als Sensation präsentiert. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts empfahl man Eltern von Babys, deren Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen war, sich möglichst umgehend für Junge oder Mädchen zu entscheiden; dann ging man die Sache chirurgisch an.

Ein Gesetz, das diese intergeschlechtlichen Menschen vor Ein- und Übergriffen schützt, ist sinnvoll. Sogar die Wissenschaft sprach viel zu lange von Defekten oder Störungen der geschlechtlichen Entwicklung, heute spricht sie von Varianten. Diese Menschen sind nicht gestört und nicht krank, nur anders. Sie sollen selbst entscheiden, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen.

Das geht den Staat nichts an

In der politischen Diskussion über das Selbstbestimmungsgesetz spielen intergeschlechtliche Menschen auch eine Rolle, aber nur am Rande. Im Mittelpunkt der grün-gelb-roten Gesellschaftspolitik stehen die trans Menschen: Männer oder Frauen mit eindeutigem biologischem Geschlecht, die sich im falschen Körper untergebracht fühlen. Es sind Menschen, die unter ihrem Geschlecht leiden. Nicht wenige von ihnen sind suizidgefährdet. Die Gesellschaft sollte auch trans Menschen ermöglichen, nach ihren Bedürfnissen zu leben. Dazu gehört die Option, sich von seinem oder ihrem biologischen Geschlecht zu lösen.

Bisher müssen die Betroffenen dazu psychiatrische Gutachten vorlegen, einen gerichtlichen Beschluss erwirken, Antworten auf intime Fragen geben, die niemanden etwas angehen, schon gar nicht den Staat. Die Ampelkoalition hat am vergangenen Freitag beschlossen, dass diesen Menschen keine entwürdigenden Fragen mehr gestellt werden. Das ist richtig. Sie hat beschlossen, dass ihnen überhaupt keine Fragen mehr gestellt werden. Das ist falsch.

Dass die neue Freiheit missbraucht werden könnte, kommt in der Gedankenwelt der Koalitionspolitiker nicht vor. Kein vernünftiger Mensch wird doch ohne ernsthaften Grund sein Geschlecht wechseln! Nein, kein vernünftiger Mensch. Aber folgen Sie mir bitte bei einer einfachen Modellrechnung: Wenn 99 Prozent der ungefähr 50 Millionen Erwachsenen (plus einer obendrauf kommenden Anzahl Heranwachsender) grundvernünftige Menschen sind, dann bleibt ein Prozent übrig – Spinner, verpeilte Typen, schräge Vögel, Anarchos des Alltags. Also 500.000 Menschen. Wenn von denen wiederum nur ein Prozent auf den Gedanken kommt, das Gesetz mal auszuprobieren, einfach so, um Kollegen und Nachbarn zu verwirren, um das Jobcenter oder die Ex-Frau zu ärgern, damit Strafzettel und Rechnungen nicht mehr ankommen – dann wären das immer noch 5.000.

 
 
 
 
 
 
 

Aber selbst wenn es nur 500 sind: Sie werden diese Menschen kennenlernen, auf TikTok und Instagram, in den Boulevardmedien, im Fernsehen und auf YouTube. Gute Unterhaltung!

Solche Nebenwirkungen des Gesetzes werden von der Politik als Skurrilität abgetan. Und der Vollbärtige in der Frauensauna? Ach was, kein Problem, heißt es, da greift doch das Hausrecht. Aber wie ist das zum Beispiel bei Stellenbesetzungen? Verstößt ein Unternehmen, das der bärtigen Frau mit der tiefen Stimme einen Job verweigert, gegen das Allgemeine Gleichstellungsgesetz? Ähm, ja, kommt darauf an ... Und wie verhält es sich, wenn ein biologischer Mann mit weiblicher Identität zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird? Gehört sie in den Frauenknast? Tja, für die Justiz sind die Länder zuständig, die Ampelkoalition kann sich ja nicht um alles kümmern.

Fatale Folgen bei Kindern

Frauen, die jetzt noch autonome Orte für Frauen fordern, die für männerfreie Schutzräume eintreten oder auch nur für Fairness im Frauensport, gelten als transfeindlich, man stellt sie in die rechte Ecke. Alice Schwarzer hat ihr Leben dem Feminismus gewidmet, heute wird sie von der queeren Community ausgegrenzt. Auf Sahra Wagenknecht regnete in der Bundestagsdebatte ein Empörungsgewitter nieder, weil sie das Gesetz nicht gut fand.

Fatal sind die neuen Regeln im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Teenager sollen ab 14 über ihren Geschlechtseintrag entscheiden können, notfalls auch gegen den Willen beider Eltern, dann mithilfe des Familiengerichts. Andererseits sollen Eltern von Sechs- oder Siebenjährigen über den Geschlechtseintrag ihres Kindes frei verfügen können. Eltern meinen es doch gut mit ihren Kindern, oder? Ja, fast alle. Außer denen, die ihre Kinder misshandeln oder bei der Erziehung auf Schamanen, Wunderheiler und Sektenprediger vertrauen. Bei Heranwachsenden stellt sich zudem nicht nur die Frage nach dem amtlichen Geschlechtseintrag, den kann man ja ein Jahr später wieder ändern. Bei ihnen wird es regelmäßig auch um Pubertätsblocker, Hormontherapien und andere schwerwiegende Eingriffe in die körperliche Entwicklung gehen. Therapien, die komplexe medizinische und ethische Fragen aufwerfen.

So einfach wie möglich. Aber nicht zu einfach.

Man sollte alles so einfach wie möglich machen, aber auch nicht einfacher. Die Ampel setzt sich über Einsteins Rat hinweg. Sie will der sehr kleinen Minderheit der trans Menschen zu ihrem Recht verhelfen, das ist ja in Ordnung. Aber sie findet, dass dieser Minderheit nicht einmal eine kursorische Plausibilitätsprüfung ihres Anliegens zuzumuten ist, jede Nachfrage käme angeblich einer Diskriminierung gleich. Das ist zu einfach. Der Wechsel der geschlechtlichen Identität ist nicht mit einem Spaziergang zum Bürgeramt zu erledigen.

Jeder wählt sich ab November sein Geschlecht selbst? Verrückt! Eine Idee aus dem sehr linken, sehr grünen, sehr queeren Milieu. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler kann mit diesem Gesetz nichts anfangen, die Mitte der Gesellschaft erkennt darin keinen Fortschritt. Darauf nimmt die Ampel keine Rücksicht. Das kann nur schiefgehen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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