Angela Merkels Geheimnis Dann stellte sie ihre Falle
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Angela Merkel ist 70 geworden. Ein leicht verspäteter Geburtstagsgruß unseres Kolumnisten, der versucht, das Geheimnis dieser Frau in persönlichen Begebenheiten zu lüften. Vorweg: Es wird höchstens teilweise gelingen.
Zwei Regeln gelten eisern bei Geburtstagen. Erstens: Niemals einen Tag zu früh, lieber einen Tag zu spät gratulieren. Zweitens: zum Geburtstag nichts als Gutes. Dieses "nihil nisi bene" gilt eigentlich für Verstorbene und Nachrufe. Aber es ist auch an Geburtstagen passend, zumal jenen in den höheren Zahlenbereichen, künden sie doch nicht nur von der Freude zur Welt gekommen zu sein, sondern auch von unser alle Vergänglichkeit. Deshalb feiern wir sie ja.
Und großes Wohlwollen ist immer noch da, wie am gestrigen Tag schon zu bemerken war. Egal, wie man ihre politische Leistung, ihr Vermächtnis dereinst einschätzen muss und wird: Diese Frau ist etwas ganz Besonderes, ihre Art, ihr Wesen hat alle Berichterstatter in den Bann gezogen. Politische Reporter sind immer große Kopfgucker und Ausdeuter, aber bei niemandem wurde das so lustvoll und ausgiebig betrieben wie bei ihr. Es gab regelrechte Merkologen unter uns.
Ich möchte versuchen, diese Besonderheit an Begebenheiten festzumachen. Da ist zunächst eine ungeheure Schnelligkeit im Kopf. Man darf sich von ihrem physiognomisch bedingt etwas schläfrigen Gesichtsausdruck nicht täuschen lassen. Das kann so fatal sein wie der Irrtum des Gnus, das an der Wasserstelle glaubt, der Alligator da, der treibe einfach schlafend im Wasser. Als Reporter des "Spiegel" habe ich Angela Merkel für eine Titelgeschichte einmal über Monate begleitet und beobachtet. Am Ende einer solchen Recherche steht dann immer das abschließende Gespräch, so auch da in ihrem Büro im Kanzleramt. Wiederum dazu gehört das gemeinsame Foto für die Hausmitteilung, das sie damals vermutlich schon so lästig und ein bisschen albern fand wie ich heute.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Was aber plaudert man dann da so, während der Fotograf seine Bilder schießt? Ich habe es mit meiner Tochter versucht, der ich morgens beim Zähneputzen gesagt hätte, dass ich heute zu Frau Merkel gehe. "Magst du die?", habe mich meine Tochter dann gefragt. "Und?", sagt Merkel, während der Fotograf knipst, "was haben Sie geantwortet?" Au Backe. Die Falle ist gestellt. Ich druckse herum und sage, ich hätte meiner Tochter gesagt: "Mögen oder nicht mögen, das ist da nicht so die Kategorie zwischen einem Journalisten und einer Politikerin." Merkel darauf blitzschnell und mit diesem ihr immer eigenen mokanten Lächeln um den Mund: "Das haben Sie nicht zu Ihrer Tochter gesagt!"
Fast 15 Jahre später gestehe ich, was ich zu Jule tatsächlich beim Zähneputzen gesagt hatte: "Ja, ich mag die." Und ich glaube, dass das ganz vielen Kolleginnen und Kollegen bei aller beruflich gebotenen inneren Distanz so ging. Diese Mischung aus Mutterwitz und Bodenhaftung, diese mecklenburgische Schnoddrigkeit, das Unprätentiöse, und auch, ja: eine interessierte Empathie anderen Menschen gegenüber, das alles hat für sie eingenommen, sosehr man sich ermahnte.
Unvergessen eine Szene bei der Preisverleihung des "Goldenen Lenkrads", eine Autoshow des Springer-Verlags, die es nicht mehr gibt. Ein dicker Audi A8 fährt auf die Bühne, alle Winterkorns der Szene stehen benzintriefend auf der Bühne, und der Moderator Claus Strunz möchte von ihr wissen, auf welches Auto sie denn stehe. "Oooch", sagt sie, sie führe eigentlich ganz gerne mit ihrem Mann in ihrem alten Golf auf die Datsche. Lange Gesichter auf der Bühne, großer Abtörner. Man hätte sie küssen mögen dafür – und mehr noch: Das stimmte vermutlich sogar.
Irgendwann hat sie mit ihrer besonderen Art eine ganze eigene Unantastbarkeit bekommen. Bei "Cicero" hatten wir einen politischen Salon im Berliner Ensemble, zu dem Merkel eines Sonntags zu Gast war. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie darauf anzusprechen, dass sie damals Gerhard Schröder bei dessen Nein zum Irakkrieg bei einem USA-Besuch in den Rücken gefallen war – wo sich dessen Nein doch später als einzig richtig erwiesen habe. Sie habe sich so dezidiert nie persönlich geäußert, behauptete sie – was ich dank einigermaßen ordentlicher Vorbereitung mit Belegen auf meiner Karteikarte widerlegen konnte. Beim zweiten Nachfassen begann es im Saal zu raunen, es kamen die ersten Buh-Rufe auf. Die ich erst völlig falsch deutete, als Missfallen an Merkels Ausflüchten. Es war aber Missfallen am Moderator, der die Kanzlerin da so in die Enge trieb. Ist ja irre, dachte ich damals, wirklich irre.
Reindenken in andere – eine große Gabe
Das Reindenken in andere Menschen, in ihr Wesen, ihre Besonderheiten, in ihre Zwänge, in denen sie stehen, das war, würde ich behaupten, das politische Geheimnis von Angela Merkel als Politikerin. Einmal, auf dem Flug nach Sotschi, wo ihr als Hundephobikerin Wladimir Putin später einen Labrador vor die Füße legen würde, hat sie im Flugzeug bei der obligatorischen Hintergrundrunde im Gang, den russischen Präsidenten regelrecht abgescannt, ausgelesen wie ein Radargerät an der Personenkontrolle eines Flughafens. Und eines muss man ihr zugutehalten, in diesem speziellen Fall: Sie mag manche Fehler ihres Vorgängers Gerhard Schröder in Sachen Russland übernommen haben, aber über den Weg getraut hat sie Putin nie auch nur einen Millimeter. Er hat sie gleichwohl gereizt als hohe Herausforderung.
Einmal habe ich sie als stiller Passagier an einem Montag in der kleinen Challenger der Bundesregierung begleitet, und ihr Regierungssprecher, ich glaube, es war noch Ulrich Wilhelm, fragte sie zur Begrüßung, was sie denn am Wochenende gemacht habe. Sie habe sich mit ihrem Mann zusammen einen DVD-Player gekauft und DVDs mit Louis de Funès geschaut. Sie habe herausfinden wollen, wie man mit aufgekratzten Franzosen umgehen muss. Nicolas Sarkozy war gerade französischer Präsident geworden.
Der große Reiz
Meine persönliche Schlüsselszene mit Angela Merkel spielt auch in der kleinen Challenger. Genau genommen sind es zwei Szenen. Das eine Mal, es ging zu Jean-Claude Juncker nach Luxemburg, sagte ich zu Beginn des Gespräches, ich hätte auch Fragen meiner Frau mitgebracht. "Okay, dann bitte erst mal die Fragen Ihrer Frau", sagte sie. "Warum machen Sie das?", lautete eine in schnörkelloser Schönheit. Und sie antwortete, dass sie eine große Freude daran habe und dabei empfinde, Menschen, in dem Fall große Politiker und Staatenlenker, in einer Sachfrage dorthin zu bekommen, "wo ich sie haben möchte". Und an dem Tag, an dem ihr das keine Freude mehr bereite, "höre ich auf".
Einige Jahre später habe ich ihr von dieser Begebenheit in einem ähnlichen Gespräch erzählt. "DAS habe ich Ihnen gesagt?", fragte sie beinahe bestürzt. Ich glaube nicht erst seither, dass diese Freude am Schach mit Menschen tatsächlich der Wesenskern der Angela Merkel als Ausnahmepolitikerin ist und auch ihre Faszination bei den Beobachtern ausgemacht hat.
Ob auf diese Weise in der Sache immer das Richtige herauskam, darüber kann man streiten. Aber das tun wir dann bei nächster Gelegenheit, wenn im November ihre Memoiren herauskommen. Da muss dann auch wieder Kritik möglich sein. Sie wird nötig sein. Denn, wir lassen uns alle gerne überraschen, bisher jedenfalls ist Angela Merkel nicht durch übertriebene Selbstkritik aufgefallen. Aber dazu dann mehr im Herbst. Für heute nihil nisi bene.
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