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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Markus Söder Plötzlich wackelt er
Markus Söder ist der unumstrittene CSU-Chef. Noch. Denn der Schock in der Partei über das Wahldesaster sitzt tief. Und spätestens bei der nächsten Landtagswahl muss er tatsächlich liefern.
Der bayerische Ministerpräsident hat viele Talente. Ein besonders ausgeprägtes ist die Selbstvermarktung. Das lässt sich nun, da die Corona-Krise zurück ist, wieder ausgesprochen gut beobachten. Söder hier, Söder da. Söder auf allen Kanälen.
Und, genauso wichtig: immer vorn dabei. Ob es wie in diesen Tagen das Vorpreschen mit einer Impfpflicht für alle ist. Oder in der vergangenen Woche die Tatsache, dass er bereits auf einer Pressekonferenz vor einem "Corona-Drama" warnte, während die Kanzlerin noch über die Ministerpräsidentenkonferenz unterrichtete.
In der Tat wird Bayern von der vierten Welle besonders wuchtig getroffen. Entsprechend ist Corona zweifellos das derzeit wichtigste Thema im Freistaat.
Aber zumindest die Mitglieder der CSU treibt noch etwas ganz anderes um: Wie es mit ihrer Partei weitergeht. Und ja, auch mit ihrem Chef und Ministerpräsidenten. Denn Markus Söder hat zwar viele Talente, Selbstkritik gehört allerdings nicht dazu. Auch deshalb hat nun das Endspiel seiner Karriere als Spitzenpolitiker begonnen.
Söder. Endspiel. Wie bitte? Der Mann, der eben noch der "Kanzlerkandidat der Herzen" war, steht vor dem Aus? Nein, natürlich ist es noch nicht so weit. Aber die Unruhe in der CSU ist groß.
Noch schlimmer als die Schmach 2017
Bei der Bundestagswahl holte die Partei, die ansonsten vor Kraft kaum laufen kann, gerade einmal 31,7 Prozent in Bayern. Ein nach eigenen Maßstäben skandalöses Ergebnis, das schlechteste seit 1949. Und 7,1 Prozentpunkte unter der Schmach von 2017, die das Ende von Horst Seehofer als Ministerpräsident und CSU-Chef einläutete.
Natürlich hat die Ursachenforschung längst begonnen: Die Söder-Kritiker meinen, sein chronisch unfreundlicher Umgang mit dem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet habe zum schlechten Abschneiden beigetragen. Söder und seine Unterstützer erwidern, er habe dadurch noch Schlimmeres verhindert. Wer recht hat, wird sich kaum beweisen lassen.
Was für Söder gefährlicher ist: In der Selbstbespiegelung hat die CSU bei sich ein ähnliches Problem ausgemacht wie die CDU. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist und wofür sie steht. Ihr sind die klaren Positionen abhandengekommen, die Inhalte.
"Wir hatten nicht viele Botschaften, die auf ein Plakat gepasst hätten", sagt etwa Stefanie Dippl. Die 36-jährige ehemalige Vorsitzende der Jungen Union Oberpfalz hatte auf einem Listenplatz für den Bundestag kandidiert und war angesichts des schlechten Zweitstimmenergebnisses gescheitert. Dabei musste die CSU in Wahlkreisen wie Amberg früher nicht viel unternehmen, um absolute Mehrheiten zu erreichen.
Es ist einer der Vorwürfe, die dem Parteichef Söder immer wieder gemacht werden. Wofür steht eigentlich die CSU? Ein langjähriger Begleiter von Horst Seehofer sagt: "Seehofer wurde zwar immer wieder kritisiert, aber wir hatten mit ihm geniale Wahlkämpfe. Die Mütterrente oder die Ausländermaut waren Themen, die alle verstanden und bewegt haben."
Die Suche nach einer Grundüberzeugung
Mit seinem Erzfeind Seehofer möchte sich Söder natürlich nicht vergleichen. Aber sein Vorgänger verfügte über etwas, das viele bei Söder selbst nach fast drei Jahrzehnten in der Politik noch immer nicht entdeckt haben: ein politisches Leitmotiv. Seehofer wurde parteiübergreifend als das soziale Gewissen der CSU angesehen. Bei seinem Abschied als Parteichef war seine letzte Bitte: "Vergesst mir die kleinen Leute nicht."
Doch was könnte diese Grundüberzeugung für Söder sein?
Nimmt man nur die vergangenen Jahre, provozierte Söder in dieser Zeit fast die Scheidung der Union im Streit um die Flüchtlingspolitik, ließ in Behörden Kruzifixe aufhängen, erklärte die AfD zum gefährlichsten Gegner, umarmte Bäume, wollte Bienen retten und die CSU weiblicher sowie moderner machen.
Nun sagt Söder, die CSU müsse "Wächter für soziale Sicherheit" sein. Mit ihr werde es "keine weitere massive Verschuldung" und "keine weitere massive Zuwanderung" geben. Und den Wählern aus Großstädten wie München und Nürnberg, die er gerade noch umwarb, erklärt er nun, die Gesellschaft dürfe durch das Gendern nicht überfordert werden. "Früher sprach man vom 'Drehhofer', heute haben wir einen Ventilator", sagt der Seehofer-Vertraute.
Söders Suche nach einer Strategie liegt auch begründet in einer Gesellschaft, die sich fortwährend verändert. Günther Beckstein, von 2007 bis 2008 Ministerpräsident, macht das am Beispiel einer für die CSU-Erfolge entscheidenden Gruppe fest: "In meiner Zeit hat man gesagt: 90 Prozent der Bauern gehen zur Wahl und 90 Prozent wählen richtig." Heute aber sind bei Weitem nicht mehr alle Landwirte beim Bauernverband organisiert. Nicht wenige setzen sich für ökologischen Anbau ein und wählen grün.
So verunsichert Basis und Führungszirkel der CSU auch sind: Lautstarke Streitigkeiten über den Kurs finden in den Vorstandssitzungen noch nicht statt. "Die schärfste Kritik ist, wenn einer sagt: 'Super, wie du das machst, Markus. Ich hab da aber noch eine Kleinigkeit, wie man es verbessern könnte'", erzählt ein jahrzehntelanges Mitglied.
Der Corona-Profiteur
Das heißt aber nicht, dass Söder keine Angriffspunkte bieten würde, sondern eher, dass sich bisher niemand aus der Deckung wagt. Auch nicht Manfred Weber, der profilierte Europapolitiker, der das beste Ergebnis bei den Stellvertreterwahlen auf dem Parteitag im September erzielte. Er wird von den meisten als logischer Nachfolger Söders gesehen, sollte dieser scheitern.
So zurückhaltend die meisten Funktionäre mit ihrer Kritik an Söder noch sind, geht vielen eines längst zu weit: die Omnipräsenz des Vorsitzenden. Söder selbst kündigte nach dem schlechten Ergebnis bei der Landtagswahl 2018 an, dass der Teamgedanke von nun an großgeschrieben werde. Er beförderte junge, aufstrebende Frauen zu Ministerinnen. Doch dann kam die Pandemie und die One-Man-Show begann.
Söder, der nur einige Monate zuvor Deutschlands unbeliebtester Ministerpräsident war, schoss in der Popularität nach oben. Im April 2020, kurz nach Verkündung des Lockdowns, bewerteten 94 Prozent der bayerischen Wähler die Arbeit Söders positiv. Ein bis dahin unerreichter Wert. Die CSU stieg in Umfragen auf bis zu 49 Prozent. Selbst diejenigen, die Söders Führungsstil skeptisch sahen, hielten sich mit Kritik zurück, schien der Vorsitzende doch das Zugpferd der Partei zu sein.
Nach der Wahlschlappe wirft man Söder diese Form der Führung nun vor. In wichtigen Kompetenzbereichen wie der Sozial- und Umweltpolitik steht die Partei ohne bekanntes Gesicht da. Einige fürchten, dass die CSU unter Söder das werden könnte, was die ÖVP in Österreich unter Sebastian Kurz wurde: eine Bewegung, die ausschließlich von einem Kopf abhängig ist.
Der ehemalige Parteichef Erwin Huber und der Europapolitiker Manfred Weber forderten nach der Wahlniederlage mehr Köpfe und frisches Personal. Weber machte sich außerdem dafür stark, den Koalitionspartner im Freistaat, die Freien Wähler, härter anzugreifen.
Die Frage nach der Untergrenze
Trotz allem beschwichtigt der JU-Landesvorsitzende Christian Doleschal: "Söder ist ein unangefochtener Leader." Bis zur Landtagswahl in zwei Jahren wird es also höchstwahrscheinlich zu keiner Revolution in der CSU kommen. Das sieht auch ein langjähriges Vorstandsmitglied so: "Söder bekommt die Chance, den Titel zu verteidigen. Aber er bekommt auch nur diese eine."
Daran schließt sich jedoch zwangsläufig die Frage an: Wo wird Söders "Untergrenze" bei der Wahl liegen? Darüber herrscht noch keine Klarheit. Einer aus dem Vorstand sagt, dass Söder das Ergebnis von 2018 (37,2 Prozent) überbieten müsse. "Wenn er bei all der Öffentlichkeit, die er dann über fünf Jahre gehabt haben wird, nicht besser abschneidet, wäre das das Ende."
Der ehemalige Ministerpräsident Günther Beckstein deutet eine andere mögliche Definition einer Untergrenze an: "Es darf kein Bündnis gegen die CSU gebildet werden." Das würde rein mathematisch bedeuten, dass keine Mehrheit gegen die Stimmen der Christsozialen und der AfD möglich sein dürfte. Denn mit Letzteren will keine im bayerischen Landtag vertretene Partei koalieren.
Diese Aussagen zeigen, wie die Ansprüche der CSU an sich selbst in den vergangenen Jahren gesunken sind. Von der absoluten Mehrheit ist nicht mehr viel zu hören. "Klar ist, dass alle anderen Parteien dafür kämpfen, dass es 2023 vorbei ist mit dem Nimbus CSU. Die Gefahr besteht", gesteht der JU-Landesvorsitzende Doleschal ein.
- Eigene Recherchen und Gespräche