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Tagesanbruch: Brexit-Abstimmung – Danke für das Drama, liebe Briten!


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.01.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Abstimmung im britischen Parlament gestern Abend.Vergrößern des Bildes
Abstimmung im britischen Parlament gestern Abend. (Quelle: UK Parliament/Jessica Taylor/reuters)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Bilder sagen mehr als Worte heißt es, und selten war das wahrer als gestern Abend. Wenn ich in die Gesichter der Protagonisten des Brexit-Prozesses schaue, sehe ich gläserne Blicke, tiefe Augenringe, Sorgenfalten, bleiche Haut. Wenn ich Premierministerin Theresa May, Oppositionsführer Jeremy Corbyn und all den anderen Herrschaften zuschaue, wie sie sich Stunde um Stunde den Parlamentsdebatten stellen, wie sie ein ums andere Mal in druckreifen, rhetorisch ausgefeilten Sätzen ihre politischen Positionen verteidigen, wie sie um Wohl und Wehe ihres Landes ringen, dann erinnert mich der Anblick einerseits an ein Wachsfigurenkabinett. Andererseits empfinde ich tiefen Respekt.

Wir leben in einer Welt, in der die demokratische Kultur auf dem Rückzug ist, in der die Autokratie, der Nepotismus und totalitäre Systeme triumphieren. China, Russland, die Türkei, Saudi-Arabien sind nur die augenfälligsten Akteure. Dort bestimmt ein starker Mann, was gemacht wird, und wem das nicht gefällt, der hat bald Stäbe vor dem Fenster oder Erde überm Kopf. Politische Entscheidungen werden in kleinen Zirkeln hinter verschlossenen Türen getroffen und von gleichgeschalteten Behörden, Gerichten, Polizeitrupps exekutiert. Das Antlitz des beginnenden 21. Jahrhunderts trägt das kalte Lächeln der Cliquenherrschaft.

Welch einen Kontrast stellen die Gesichter von Frau May, Herrn Corbyn und den anderen Amtsträgern in London dar! Ja, die Briten mögen Nervensägen sein, ja, mit ihrem Brexit mögen sie sich selbst und der EU einen kolossalen Schlamassel eingebrockt haben. Aber sie streiten demokratisch, sie ringen öffentlich um die beste aller schlechten Lösungen, jeder gewählte Abgeordnete darf der Regierungschefin öffentlich die Meinung geigen und seine Ideen kundtun, seien sie noch so absurd. Das ist anstrengend, aber es ist auch eine große Errungenschaft der britischen Demokratie, und darauf dürfen nicht nur die Briten, sondern auch wir restlichen Europäer stolz sein. Die Chinesen mögen schneller, effizienter, konsequenter Entscheidungen treffen und umsetzen – es bleiben doch immer nur die Befehle von wenigen Privilegierten. "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind", hat der große Brite Winston Churchill gesagt, und das dürfen wir als Kompliment verstehen.

Dem Siegeszug der Autokratie aber können wir uns nur entgegenstellen, wenn wir in den europäischen Demokratien zusammenhalten. Deshalb ist es so wichtig, dass die Briten Europa eng verbunden bleiben. Deshalb mag es auf den ersten Blick brüsk erscheinen, dass die verbleibenden EU-Staaten die vom britischen Parlament gewünschten Nachverhandlungen zum EU-Austrittsvertrag gestern Abend sofort abgelehnt haben. Auf den zweiten Blick aber stärkt es jene Kräfte in London, die eine Verschiebung des Austrittstermins fordern. Denn was jetzt alle Demokraten wirklich dringend brauchen, ist Zeit zum Durchatmen. Und zum Nachdenken, ob der Brexit wirklich nötig ist.

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"Russischer Supermarkt": Höre ich diese Worte, formt sich ein Bild in meinem Kopf. Leningrad im Jahr 1990, ein kaltes Frühjahr, gemeinsam mit der Tochter meiner Gastfamilie betrete ich ein Gebäude in der Nähe des Newski-Prospekts. Ein riesiger Raum, fast schon eine Halle, Stuck an der Decke, Kronleuchter, der Fußboden scheint aus Marmor zu sein. Darauf Meter um Meter schulterhohe Regale – und fast alle sind sie leer. Oh, dort hinten steht etwas. Gewürzgurkengläser. Viele. Nur eine Marke. Dann wieder Leere. Meter um Meter. Dort vorn noch mal etwas. Salatgurken. Auch viele. Dann wieder Leerstand, dann die Kasse. Also kaufen wir Gurken. Viele.

Das ist das Bild in meinem Kopf, wenn ich "russischer Supermarkt" höre, und natürlich stammt es nicht nur aus einer längst vergangenen Zeit, sondern ist heutzutage auch ein Klischee. Natürlich können die Einwohner von Metropolen wie Moskau und St. Petersburg heute durch ein ähnliches Konsumschlaraffenland wandeln wie wir hierzulande. Aber wie sieht das aus, wenn eine russische Supermarktkette nach Deutschland expandiert? Ist das dann auch Schlaraffenland oder eher Leningrader Leere? Gestern hat in Leipzig die erste Deutschland-Filiale des russischen Discounters Mere eröffnet. Die Kette will Aldi Konkurrenz machen. Meine Kollegen Ana Grujić und Arno Wölk haben sich vor Ort umgesehen. Hier ist ihr Bericht. So viel kann ich Ihnen vorab verraten: Gurken haben sie nicht gefunden.

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WAS STEHT AN?

Eine quälende Ewigkeit lang streitet die deutsche Autofahrer-Nation schon über Feinstaub und Dieselkrise. Im Vergleich dazu ging die Diskussion über ein Tempolimit rasend schnell über die Bühne. Seit Anfang der Woche soll das Thema eigentlich schon wieder vom Tisch sein: Am Montag gab es eine klare Absage der Bundesregierung – aus Angst vor dem Wähler, hieß es daraufhin gestern in vielen Kommentaren. Deren Tenor: Wirklich schlüssige Argumente gegen eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung gebe es zwar nicht, die Regierung wolle die Autokonzerne aber nicht noch weiter gängeln, und sie scheue wohl auch davor zurück, den Bürgern noch ein Verbot aufzubürden. Schließlich findet die (überwiegend männliche) Hälfte der Bevölkerung Tempolimits doof. Das Ergebnis einer Umfrage auf t-online.de ist sogar noch deutlicher:

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Trotzdem erlaube ich mir jetzt und hier festzustellen: Würde nur die Vernunft entscheiden, wäre ein Tempolimit unausweichlich. Das zeigt zum Beispiel eine Studie aus Brandenburg, wo es besonders viele Verkehrstote gibt. Dort widmete man im Jahr 2002 einen Autobahnabschnitt, auf dem zuvor kein Tempolimit galt, zur Tempo-130-Zone um. Die Folge:

  • Die Zahl der Unfälle halbierte sich,
  • die Zahl der Toten ebenfalls.
  • Noch stärker ging die Zahl der Verletzten zurück.

Hinzu kommt eine weitere Erkenntnis: Geschwindigkeitsbegrenzungen sparen Geld. Und zwar richtig viel. Warum das so ist, erklärt Ihnen mein Kollege Markus Abrahamczyk – und er verrät Ihnen auch, welches Tempo ideal wäre, damit wir alle zügig auf der Autobahn vorankommen. Sie müssen deshalb nicht der Meinung sein, dass ein Tempolimit sinnvoll ist. Aber die Fakten zu kennen, das ist es schon. Und deshalb kann das Thema eben noch nicht vom Tisch sein.

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Das Bundeskabinett bringt heute gleich mehrere Gesetze auf den Weg: die Bafög-Reform (mehr Geld für Schüler und Studenten), mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung, eine gründlichere Registrierung von Asylbewerbern. Außerdem stellt Wirtschaftsminister Peter Altmaier den Jahreswirtschaftsbericht vor. Das wird interessant, denn die Zeichen stehen auf Abkühlung.

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Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt entscheidet heute vermutlich darüber, ob private Arbeitgeber ihren Mitarbeitern das Tragen religiöser Symbole untersagen dürfen. Da geht es zuvörderst um das islamische Kopftuch, aber natürlich könnte es auch Kreuze betreffen.

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Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und Bahnchef Richard Lutz sprechen heute zum dritten Mal darüber, wie die Deutsche Bahn endlich ein effizientes, pünktliches und kundenfreundliches Unternehmen werden kann. Und wenn es noch ein viertes Mal braucht: Gut so.

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WAS LESEN?

Der Plan der Kommission für den Ausstieg aus der Braunkohle hat viel Anerkennung bekommen. Zu Recht? Klimaexperten sagen: Deutschland würde damit EU-weit hoffnungslos abgeschlagen und die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens verfehlen. Unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld sagt: Der Kohleausstieg wird für die Verbraucher teuer, für die Versorgungssicherheit riskant und für die betroffenen Regionen schwierig. Klingt so, als sollte die Kommission nachsitzen.

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Kommen wir zu einem Thema, das im Tagesanbruch viel zu wenig Aufmerksamkeit findet: Außerirdische. Die bloße Erwähnung des Begriffs dürfte mich in den Augen vieler Leser in die Ecke der Spinner rücken. Dabei ist es doch eigentlich absurd: Obwohl sich allein in unserer eigenen Galaxis mehr als hundert Milliarden Sonnen tummeln, glauben wir mehrheitlich, dass es vergleichbares intelligentes Leben nur auf dem Staubkörnchen gibt, das wir selbst bewohnen. Aber gut, wir haben auch mal geglaubt, die Sonne, die Sterne und der gesamte Kosmos würden sich um dieses Staubkörnchen drehen. Bis ein paar Wirrköpfe daherkamen und erzählten, die Erde drehe sich um die Sonne. Leute gibt's. Ärger gab's auch. Aber Kopernikus und Galileo hatten recht.

Wir stehen nicht im Mittelpunkt. Angesichts der unfassbaren Vielzahl der Sternensysteme ist es irrational anzunehmen, wir hätten die kosmische Intelligenz für uns allein gepachtet. Es müsste geradezu mit dem Teufel zugehen, wenn nicht irgendwo in den Weiten des Universums anderes Leben existierte. Eine deutlich steilere These allerdings ist es, zu behaupten, unsere extraterrestrischen Nachbarn hätten mal kurz im Vorgarten unseres Sonnensystems vorbeigeschaut. Da sind wir nun doch wieder bei Fantastereien angelangt. Im Oktober 2017 zum Beispiel haben Wissenschaftler zum ersten Mal ein vermutlich interstellares Objekt in unserem Sonnensystem beobachtet. Und prompt behauptet natürlich irgendein Heini: Nein, das ist kein Asteroid, eine Raumsonde könnte es sein! Weil die Signale von den Mustern abweichen, die zu Asteroiden und Kometen passen. Weil die Hinweise auf Oberfläche und Form und die Flugbahn nicht dem Bekannten entsprechen. Weil ein Objekt dieser Art gar nicht bei uns auftauchen dürfte. Was Spinner sich halt so ausdenken.

Moment ... das sagt der Leiter der astronomischen Forschung in Harvard? Dann sollten wir das Interview mit ihm vielleicht doch lesen.

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WAS FASZINIERT MICH?

Apropos Astronomie: "Hinter dem Mond zu sein", gilt im Allgemeinen nicht als Kompliment. Weil für uns bekanntermaßen nur zählt, was sich direkt vor unserer Nase befindet. Deshalb haben Astronomiefreunde den Kleinkram am Sternenhimmel mal etwas deutlicher in unser Blickfeld gerückt und statt des Mondes verschiedene Planeten um die Erde kreisen lassen – in derselben Entfernung. Das rückt unsere Perspektive wieder zurecht. Wir sind Winzlinge im All. Aber wenigstens nicht hinter dem Mond.

Ich wünsche Ihnen einen Tag voller neuer Perspektiven.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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