AfD im Wahlkampfjahr Konflikt um Spitzenkandidat – Misstrauen in der Partei spürbar
Der Streit um die Ausrichtung der AfD ist so alt wie die Partei selbst. Vor den Wahlen sind die persönlichen Animositäten vielleicht sogar noch gravierender als ideologische Auseinandersetzungen.
In ihrem Leitantrag für das Programm zur Bundestagswahl schürt die AfD Misstrauen gegen Parteien und die repräsentative Demokratie. Viel Misstrauen ist aktuell auch in der Partei selbst spürbar. Das zeigt sich besonders in dem Konflikt um die Benennung eines AfD-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl.
"Das totalitäre Gebaren der Regierungspolitiker kann einzig mit Mitteln der unmittelbaren Demokratie gestoppt werden", heißt es in dem Antrag der Programmkommission, über den die Delegierten bei einem Bundesparteitag am 10. und 11. April in Dresden entscheiden sollen. Volksentscheide wie in der Schweiz sollen her, auch auf Bundesebene. An anderer Stelle führen die Autoren des Antrags aus: "Die Allmacht der Parteien und deren Inanspruchnahme des Staates gefährden unsere Demokratie." Auch wenn es im Grundgesetz heißt: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit."
Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen tritt bei der Bundestagswahl – Stand jetzt – selbst nicht an. Er werde in Brüssel bleiben, teilte der Europaabgeordnete mit. Eine klare Meinung dazu, wie es im Wahlkampf laufen soll, hat er trotzdem. Meuthen will, dass die AfD auf ihrem Parteitag noch keinen Spitzenkandidaten für die Wahl am 26. September kürt. Und zwar, weil die Aufstellung der Kandidatenlisten in einigen Bundesländern wegen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie bis dahin nicht abgeschlossen sein wird.
Auf dem Parteitag soll noch kein Spitzenkandidat bestimmt werden
Die Überlegung dahinter: Wäre schon jemand als Aushängeschild für den Wahlkampf benannt worden, könnten sich die Delegierten in den Ländern genötigt fühlen, ihn oder sie auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu wählen. Damit wären sie in ihrer freien Entscheidung behindert. Oder das Gegenteil tritt ein: ein auf dem Parteitag gewählter Spitzenkandidat fällt hinterher bei der Aufstellungsversammlung durch. Die Außenwirkung wäre womöglich verheerend, stünde die AfD doch als zerstrittene Chaostruppe da.
Auch auf Meuthens Betreiben hin lehnte der AfD-Bundesvorstand am Montag den Antrag ab, die Spitzenkandidaten-Wahl auf die Tagesordnung des Parteitages zu setzen. Tino Chrupalla, der Spitzenkandidat in Sachsen ist und die Partei gemeinsam mit Meuthen führt, hält diese Entscheidung für falsch. Ebenso die beiden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Alexander Gauland und Alice Weidel. "Die Köpfe müssen zu Beginn des Wahlkampfes hinter einer Kampagne stehen und nicht erst kurz vor der Wahl aus dem Hut gezaubert werden – dann ist es nämlich zu spät", sagt Weidel. Auch ihr Landesverband Baden-Württemberg hat noch keine Kandidatenliste aufgestellt.
Auf Meuthens Seite steht in der Spitzenkandidatur-Frage unter anderem der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Landesverbandes, Rüdiger Lucassen. Der Bundestagsabgeordnete sagt: "Ein Spitzenkandidat oder Spitzenteam sollte sich aus der Riege der Spitzenkandidaten der Landesverbände rekrutieren." Da die Listenwahlen in einigen Landesverbänden noch ausstünden, sei er dagegen, diese Frage schon in Dresden zu klären. "Klar ist, dass die AfD einen oder zwei Spitzenkandidaten braucht", sagt Lucassen. Die AfD solle einen geeigneten Weg finden, diese nach Abschluss der Listenwahlen zu küren. Meuthens Vorschlag, die Mitglieder dazu vielleicht in einer Urwahl zu befragen, schließt er sich nicht explizit an.
Lucassen gilt als Meuthens Wunschkandidat
In der Spitzenkandidaten-Frage ist das letzte Wort allerdings ohnehin noch nicht gesprochen. Denn die Delegierten könnten auf dem Parteitag per Mehrheitsbeschluss eine Änderung der Tagesordnung herbeiführen.
In der AfD-Gerüchteküche heißt es derweil, Lucassen (69) sei Meuthens Wunschkandidat für die Spitzenkandidatur und den künftigen Fraktionsvorsitz im Bundestag. Auf die Frage, ob er entsprechende Absprachen mit Meuthen getroffen habe, antwortet Lucassen: "Nein, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ich treffe solche Absprachen grundsätzlich nicht." Als Distanzierung will er das aber nicht verstanden wissen: "Wenn der Bundesvorsitzende mir sein Vertrauen für meine Art der Politik entgegenbringt, freut mich dies jedoch sehr."
Welche Art von Politik das sein soll, darüber wird allerdings momentan in der AfD gerätselt. Lucassen hatte im März 2020 auf eine Auflösung des vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften "Flügels" gedrungen. Sein Vorschlag wurde von der Bundesspitze dann auch aufgenommen. Wenig später gab der "Flügel" seine Auflösung bekannt. Für den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat sich dadurch allerdings nicht viel geändert. Er sagte im Dezember in einem Interview: "Der hat sich zwar formell aufgelöst, das Personennetzwerk wirkt aber im Hintergrund weiter."
Ein Shitstorm als Abwehrstrategie?
Als Lucassen dann im Dezember im westfälischen Höxter gemeinsam mit dem "Flügel"-Gründer und Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke bei einer Parteiveranstaltung auftrat, sorgte das bei einigen AfD-Funktionären für Verwunderung. Lucassen selbst sieht keinen Widerspruch: "Ich bin überzeugt, dass die AfD die gesamte Bandbreite von liberal-konservativ bis rechts-national abdecken muss".
Meuthen, der für manche Höcke-Anhänger im Osten inzwischen ein rotes Tuch ist, setzt sich dagegen gelegentlich ganz bewusst dem innerparteilichen "Shitstorm" aus. Vielleicht auch als Abwehrstrategie gegen eine mögliche Einstufung der Gesamtpartei als Verdachtsfall rief er in einer Parteitagsrede in Kalkar im November Mitglieder zur Raison, die "rumkrakeelen" und von einer "Corona-Diktatur" fabulieren. Gauland warf Meuthen vor, er habe "eine Rede gehalten, mit der er die Hälfte der Partei beschädigt hat".
Wer in diesen Tagen mit Spitzenfunktionären der AfD spricht, kann manchmal den Eindruck gewinnen, mit Vertretern von zwei Parteien zu sprechen. Die Ansichten zu einigen aktuellen Fragen liegen relativ weit auseinander: Während ein Teil der Partei Impfskeptikern das Wort redet, beklagen andere, dass es mit der Covid-19-Impfung so langsam vorangeht. Auch die Frage, wie weit man die Partei nach rechts öffnen sollte, ist nicht abschließend beantwortet. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Vertretern der verschiedenen Lager sind teils frostig, manche telefonieren monatelang nicht miteinander. Das ist wohl keine gute Ausgangsposition für eine Partei in einem Jahr, in dem eine Bundestagswahl und sechs Landtagswahlen anstehen.
Wenn schon am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, würde die AfD laut aktuellen Umfragen acht bis zehn Prozent der Stimmen erhalten. Das ist deutlich weniger als bei der Wahl 2017, als die AfD mit 12,6 Prozent als drittstärkste Kraft in den Bundestag eingezogen war.
- Nachrichtenagentur dpa