Pressestimmen zum Nahles-Rücktritt "Das Bündnis zwischen Union und SPD ist am Ende"
SPD-Chefin Andrea Nahles tritt von ihren politischen Ämtern zurück. Doch für die deutschsprachige Presse sind damit die Probleme der Partei nicht gelöst. Ein Überblick:
Spiegel-Online: "Andrea Nahles hätte eigentlich eine Geschichte zu erzählen, wie sie diese Partei liebt, eine Geschichte vom Aufstieg trotz aller Widrigkeiten. Nahles hätte die SPD ideal verkörpern können, doch nach etwas mehr als einem Jahr an der Spitze verkörperte sie nur noch den Niedergang. Warum? Erstens dominiert der öffentliche Auftritt heute noch ganz anders als früher die Wahrnehmung. Als Nahles im Karneval "Humbahumbahumbatäteräää" sang, verbreitete sich das Video rasend schnell über YouTube. Als sie im Bundestag das Pippi-Langstrumpf-Lied sang, passierte das Gleiche.
Früher musste so etwas erst in der Tagesschau kommen, um wahrgenommen zu werden. Zweitens hat die SPD sich verändert. Die Wahlniederlagen seit 2009 haben in dieser Partei die Bereitschaft schwinden lassen, sich von oben irgendetwas sagen zu lassen. Der stetige Niedergang hat dazu geführt, dass an der Basis nicht mehr Rationalität die Diskussionen und Beschlüsse bestimmt, sondern Emotion. Jahrzehntelang geltende Gesetzmäßigkeiten gelten nicht mehr."
Süddeutsche Zeitung: "SPD-Vorsitz ist eher so etwas wie Rodeo. Über kurz oder lang wird man abgeworfen. Andrea Nahles hielt sich 13 Monate, wer das für kurz hält, hat einerseits recht; andererseits: Es waren zwei Monate länger als Schulz. Ähnlich wie beim Rodeo ist die Frage, wann man, in all dem Stress, die eine falsche Bewegung macht, welche einen sodann schleunigst aus dem Sattel hebt.
Andrea Nahles passierte es am vergangenen Montag, dem Tag nach der Europa- und Bremenwahl. Vielleicht ist das aber auch alles gar nicht so schlecht. Das Bündnis zwischen Union und SPD ist ebenso am Ende, wie es zwischen 1980 und 1982 das Bündnis zwischen SPD und FDP war. Ein gemeinsames Projekt ist kaum mehr zu erkennen, die Protagonisten schleppen sich nur noch durch. Wer wünscht sich ernsthaft, dass das noch zwei Jahre so weitergeht?"
t-online.de: "Ja, Nahles hat Fehler gemacht. Manchen Sozialdemokraten sind ihre öffentlichen Auftritte richtiggehend peinlich, beim Wähler ist sie unbeliebt. In Partei und Fraktion gibt es Kritik an ihrem Führungsstil. Doch wer auch immer Nahles auf den Spitzenpositionen folgt: Es ist unwahrscheinlich, dass das die SPD aus ihrer mittlerweile existenzbedrohenden Krise holt. Zu tief liegen die Probleme der Partei.
- Kommentar: Die Probleme der SPD sind größer als Nahles
Viele Wähler wissen schlicht nicht mehr, für was die Sozialdemokraten eigentlich stehen. In keiner großen Koalition konnte die SPD ihre Erfolge – die es zweifellos gab, Stichwort: Mindestlohn – nachhaltig für sich verbuchen. Stattdessen gaben die Genossen ein Bild der Ratlosigkeit ab. Schlimmer noch: Mehr und mehr ist die SPD in den vergangenen Jahren zu einer Partei geworden, die Mitleid hervorruft. Jemand, mit dem man Mitleid hat, den will man trösten. Mehr aber auch nicht."
Faz.net: "Für die SPD ist der Rücktritt Andrea Nahles’ die schlechteste aller Möglichkeiten: Niemand weiß nun mehr, wie es weitergehen soll. Die SPD steht deshalb nicht nur vor der Frage, wer denn nun den Karren aus dem Dreck ziehen soll. Die Koalition hat sich über Nacht aber zum Anker der SPD entwickelt: Sie ist alles, was die SPD an Stabilisierung noch hat. Was auch immer die kommenden Tage und Wochen bringen werden: Die SPD hat schon abgedankt, bevor sie dann auch als Regierungspartei eines Tages abdanken muss. So bitter es ist für die SPD, die Wahrheit ist: Die Debatte über einen Kanzlerkandidaten wird ihr dann erspart bleiben."
Tagesschau.de: "Hier rächt sich vor allem die Wagenburg-Mentalität der Noch-Vorsitzenden, die zuletzt immer mehr nur noch einem kleinen Kreis von Genossen vertraute und sich von Kritikern und Feinden umzingelt sah. Die sich zurückzog, weil sie spürte, dass sie ihr zentrales Versprechen zur Amtsübernahme in Partei und Fraktion 2017/2018 nicht wirklich erfüllen konnte: nämlich in der innerparteilich ungeliebten Großen Koalition das eigenständige Profil der SPD gegenüber der Union zu schärfen, das Soziale herauszuarbeiten, nachdem Schröders Hartz-Reformen den Markenkern der SPD massiv beschädigt haben. Die verheerenden Wahlergebnisse zeigen, dass genau das Nahles nicht gelungen ist.
- Newsblog: Alle aktuellen Infos zur SPD-Krise
- Rücktritt von allen Ämtern: Andrea Nahles zieht sich aus der Politik zurück
- Brief an die SPD-Mitglieder: Nahles' Rücktrittsschreiben im Wortlaut
Statt Abrechnung kommt von ihr der Aufruf, solidarisch zusammenzuhalten. Das ehrt Nahles, die sonst in Stilfragen oft alles andere als sicher war. Die Führungsfrage ist offen und es dürfte weitere innerparteiliche Abrechnungen und Konflikte geben. Mit einer Dynamik, die den vorzeitigen Austritt aus der Großen Koalition wahrscheinlich macht – und wohl auch vorzeitige Neuwahlen."
- Eigene Recherche