Pressestimmen zum Merkel-Rückzug "Aus der mächtigsten Frau Europas ist eine lahme Ente geworden"
Einige hatten es für möglich gehalten, sicher war sich niemand: Am Montag kündigte Merkel ihren Verzicht auf Parteivorsitz und erneute Kanzlerkandidatur an. Das meint die deutsche Presse dazu.
"Die Zeit": "Merkel, der man nachsagt, alles vom Ende her zu denken, hat die Größe bewiesen, endlich auch ihr eigenes Ende mitzudenken. Sie ist uneitel genug, sich selbst für ersetzlich zu halten. Ein Charakterzug, den man bei den wenigsten Spitzenpolitikern antrifft, die so lange auf höchster Ebene gearbeitet haben. Mehr noch: Merkel hat erkannt, dass mit ihr an der Spitze der Abstieg der Union zu einer 20+x-Partei unaufhaltsam und unumkehrbar gewesen wäre. Eine sicherlich schmerzhafte Einsicht – die im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, dass all jene recht haben, die seit Jahren brüllen: 'Merkel muss weg!'"
t-online.de: "(Merkels Rücktritt) ist der Versuch, ihren Kritikern entgegenzukommen. ... Sie stellt das eine Amt zur Verfügung, um das andere Amt zu retten. Die Frage ist, ob ihr das gelingt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie weitere drei Jahre Kanzlerin bleiben kann. ... Merkel hat Partei und Land niedergemerkelt. Doch anders als bei Kohl ist es diesmal kein starker Herausforderer von der SPD, sondern es ist Druck vonseiten der AfD, der Grünen, aber vor allem auch aus der eigenen Partei."
Embed
"Die Welt": "Angela Merkel hat die CDU in einen Pragmatismus manövriert, der die Partei von ihrem Erbe und ihrer Tradition isolierte. Mögen die Mitglieder dies noch aus Parteisoldatentum oder Opportunismus mitgetragen haben, so waren die Wähler damit emotional und intellektuell unterfordert. Sie erkannten ihre Partei kaum wieder. Sie wollten Orientierung, und das gerade in Zeiten auch systemischer Unruhen und Brüche. Dazu gibt es jetzt wieder eine Chance."
"Stuttgarter Zeitung": "Am Montag um die Mittagszeit ist aus der mächtigsten Frau Europas eine sprichwörtliche lahme Ente geworden. Die Ankündigung Angela Merkels, im Dezember nicht erneut für den CDU-Vorsitz zu kandidieren und keine weitere Legislatur als Kanzlerin anzustreben, bedeutet nicht nur den Anfang vom Ende ihrer Macht, sondern weit mehr: Sie beschneidet ihren Gestaltungsspielraum von diesem Moment an."
Embed
"Süddeutsche Zeitung": "Regierungserfahrung, Seriosität und Solidität sind ein schöner Dreiklang, aber keine Garantie auf Erfolg. Merkels Erfolgsrezept war der Erfolg – solange sie ihn hatte; seitdem er bröckelte und schließlich ausblieb, wuchsen die Zweifel an ihrer Führungsstärke. In der gerade noch rechtzeitigen Abgabe der Parteiführung hat sie die Kraft noch einmal aktiviert. Mit dem Parteivorsitz schwindet die Macht zu regieren."
Der Standard: "Jeder weiß, sie wird nicht mehr lange da sein, sie hat jetzt ein Ablaufdatum, das schneller kommen könnte, wenn es in Berlin tatsächlich auf Neuwahlen hinausläuft. ... Das ist ein Risiko, das Merkel wohl selbst auch sieht. Aber es erschien ihr als das geringere Übel als zu bleiben und zu riskieren, dass sie nach einem eventuellen Verlust des Kanzleramtes nach der nächsten Wahl mit Schimpf und Schande davongejagt wird."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Kramp-Karrenbauer und Spahn mussten, als Merzens Ankündigung das Kandidatenkarussell anschob, sofort aus der Deckung kommen. Denn das Fell der Bärin wird jetzt verteilt, nicht erst am Ende der Jagdsaison. Wer CDU-Vorsitzende(r) wird, wird auch Kanzlerkandidat(in), ob die nächste Bundestagswahl planmäßig stattfindet oder früher. ... Wer aber soll nun die CDU in eine hellere Zukunft führen? Es ist weise, dass Merkel keine Empfehlung abgibt; sie wäre eine Belastung."
- Neue CDU-Spitze: Das sind Merkels mögliche Nachfolger
- Rede im Wortlaut: "Amtszeit ist meine letzte als Bundeskanzlerin"
Berliner Zeitung: "Nach Lage der Dinge wird aber schon die Entscheidung über ihre Nachfolge im Parteivorsitz eine ganz neue Dynamik in die CDU bringen. Sollten auf dem Parteitag im Dezember tatsächlich drei ernst zu nehmende Kandidaten antreten, wäre das geradezu ein Demokratieschock für die CDU, in der solche Fragen seit Jahrzehnten vorab in den Hinterzimmern geklärt wurden. Es mag sein, dass Angela Merkel, die Entscheidungen gern bis zur letzten Minute hinauszögert, gerade noch rechtzeitig den Weg zur Erneuerung ihrer Partei geöffnet hat. Das wäre dann nach 18 Jahren ein letztes, aber überhaupt nicht zu überschätzendes Verdienst."
- dpa, AFP