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Pistorius will Wehrpflicht: Werden Männer zur Bundeswehr gezwungen?


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Pistorius will neuen Wehrdienst
Nun also Plan B


Aktualisiert am 07.06.2024Lesedauer: 6 Min.
Hat er den Durchblick? Verteidigungsminister Boris Pistorius hat der Militärbürokratie den Kampf angesagt.Vergrößern des Bildes
Boris Pistorius plant eine Wehrreform: Wie freiwillig wird der Wehrdienst? (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/imago-images-bilder)
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Verteidigungsminister Pistorius will nächsten Mittwoch sein Wehrpflicht-Modell vorstellen. Im Kern geht es um die Frage, wie viele Pflichten der neue Wehrdienst vorsieht – oder ob er ganz auf Freiwilligkeit setzt.

Boris Pistorius schien etwas im Gepäck zu haben, als er an diesem Mittwoch auf der Regierungsbank saß, um sich vom Bundestag befragen zu lassen.

Der Verteidigungsminister wirkte angefressen, fast ein wenig geladen. Als ihn ein AfD-Abgeordneter nach einem möglichen deutschen Militäreinsatz in der Ukraine fragte und Pistorius' launige Replik mit Zwischenrufen störte, brach der Minister seine Antwort ab und setzte sich wieder hin. Pistorius schien das Manöver so zu wurmen, dass er sich noch Minuten später über die "dummen Fragen" eines bestimmten Teils des Hauses ausließ, die "meistens auch noch mit Geldzahlungen aus Moskau oder Peking" verknüpft seien.

Die Art der Attacke gegen die AfD war für Pistorius eher untypisch. Auch wenn der Minister gerne mal ruppige Antworten gibt, tut er das stets mit einem gewissen Gespür für die Situation. Hier vergriff er sich im Ton. Selbst seine Parteikollegin, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, rief Pistorius zur Ordnung. Zeigt der Minister Nerven? Oder war er einfach in Kämpferlaune?

Klar ist: Pistorius hätten allen Grund, sich zu ärgern. Die vergangenen Monate waren nicht leicht für den Minister. Bei zentralen politischen Projekten droht ihm Ungemach. Der Kampf um einen höheren Wehretat? Könnte am gemeinsamen Veto von Kanzler und Finanzminister scheitern. Die Litauen-Brigade? Eine Blackbox, bei der noch immer keiner sagen kann, woher Geld, Personal und Material kommen.

Und nun musste Pistorius auch bei seinen Wehrpflichtplänen klein beigeben. Ausgerechnet der SPD-Kanzler und die eigene Partei lassen den Minister hängen. Denn das, was bisher bekannt ist oder intern kursiert, entspricht nicht den ursprünglichen Vorstellungen des Ministers.

Online-Fragebogen für alle 18-Jährigen

Offiziell will Pistorius sein Modell am 12. Juni im Verteidigungsausschuss des Bundestags vorstellen. Eckpunkte hatten er beziehungsweise die Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller zuletzt in diversen Gremiensitzungen vorgestellt: in einer Ampel-Runde mit Verteidigungs- und Haushaltspolitikern, bei der Arbeitsgruppe Verteidigung der SPD-Fraktion, im Parteipräsidium der SPD.

Nach t-online-Informationen will Pistorius seine Wehrpflichtpläne noch in dieser Legislatur vor der Sommerpause 2025 umsetzen. Kern des neuen Wehrdienstes soll ein Modell sein, das vor allem auf Freiwilligkeit und Anreize setzt. So sollen künftig alle 18-jährigen Männer und Frauen einen Online-Musterungsfragebogen zugeschickt bekommen. Darin sollen sie Fragen zu ihrer Fitness, ihrem grundsätzlichen Interesse an der Bundeswehr, aber auch zu ihren handwerklichen oder kognitiven Kompetenzen beantworten.

Die Idee dahinter ist, nicht wie früher vor allem auf körperliche Eignung der potenziellen Rekruten zu setzen, sondern ein umfassenderes Fähigkeitsbild zu bekommen. Die Hoffnung im Ministerium ist, die junge Generation dadurch in die Lage zu bringen, sich ernsthaft mit einem Dienst bei der Truppe zu beschäftigen.

Anreizsystem geplant

"Die jungen Menschen sollen dazu gezwungen werden, sich zumindest ein Mal in ihrem Leben mit der Bundeswehr zu beschäftigen", sagt einer, der dem Minister nahesteht. Bisher erhalten 18-Jährige zweimal im Jahr eine Postkarte von der Bundeswehr, die mit zielgruppengerechten Sprüchen für die Truppe wirbt. Der Erfolg dieser Kampagne hielt sich allerdings bisher in Grenzen.

Darüber hinaus sollen bestimmte Anreize das Interesse an einem freiwilligen Wehrdienst wecken. Hier hat Pistorius intern unterschiedliche Ideen vorgestellt, etwa einen kostenlosen Führerschein, Zuschüsse zu Studienkrediten oder Sprachkurse. Der Minister sei jedoch offen für weitere Vorschläge, die sich im parlamentarischen Verfahren ergeben, heißt es.

Musterungspflicht – für einen Teil der jungen Männer?

Neben dem freiwilligen Teil soll es auch einen Pflichtteil geben. Wie groß der genau ausfällt, ist noch unklar. Klar ist hingegen: Das Ausfüllen und das Einsenden des Musterungsfragebogens werden für die jungen Männer verpflichtend. Sonst drohen Sanktionen, etwa Bußgelder.

Zudem: Wer sein Interesse für die Truppe bekundet, also etwa bei der entsprechenden Frage mit Ja antwortet, und danach von der Bundeswehr eingeladen wird, könnte dazu verpflichtet werden, dann auch zur Musterung zu gehen. Für einen Teil der jungen Männer könnte also eine Musterungspflicht gelten. Aus den erfolgreich Gemusterten bildet sich ein Pool, aus dem die Bundeswehr die Fähigsten auswählt.

Unklarheit besteht bei der Frage, ob auch diejenigen, die Nein angekreuzt haben, gegen ihren Willen zur Musterung gezwungen werden können. Hier gehen die Darstellungen auseinander. Manche der bisher Eingeweihten sagen, Pistorius habe das bewusst offen gehalten, im Verteidigungsministerium gibt es Stimmen, die sagen, Pistorius selbst habe das noch nicht final entschieden.

Kritiker der 'weichen' Variante sagen, nur die Ja-Ankreuzer zur Musterung zu verpflichten, sei wenig zielführend. Zu leicht könnten sich junge Männer damit aus der Affäre ziehen – auch diejenigen, die potenziell Interesse hätten, aber dies aus bestimmten Gründen im Fragebogen nicht kenntlich machen. Die Pflicht, sich ernsthaft mit der Bundeswehr auseinanderzusetzen, ende mit einem Nein bei der entsprechenden Frage.

Wer doch nicht will, kann wieder gehen

Auch nach der Musterung soll das Prinzip der Freiwilligkeit gelten: Selbst wer aus freien Stücken zur Musterung wollte und hinterher als geeignet eingestuft wird, kann der Truppe wieder absagen. Für die jungen Männer hat das den Vorteil, es sich bis zum Schluss noch anders zu überlegen, doch für die Bundeswehr könnte das zum Problem werden: Denn es bedeutet, dass selbst dieser exklusive Pool an sorgsam ausgewählten und fähigen Leuten, die immerhin für eine Zeitlang Interesse gezeigt haben, sich jederzeit auflösen kann. Planungen werden so nicht unbedingt einfacher.

Auch Frauen erhalten den Fragebogen ab ihrem 18. Lebensjahr, sind allerdings zu nichts verpflichtet. Grund für die Ungleichbehandlung ist das Grundgesetz, das nur die Männer zu einem Dienst in den Streitkräften verpflichten kann. Da der Gesetzentwurf, wie er Pistorius vorschwebt, mit der Ampelmehrheit durch den Bundestag soll, muss er sich innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben bewegen. Die Idee einer Grundgesetzänderung, die eine Zustimmung der Union erfordern würde, ist vom Tisch.

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An der Kapazitätsgrenze

Der Wehrdienst soll zwischen sechs und 12 Monate dauern. Rund 5.000 bis 10.000 junge Männer sollen so jedes Jahr für die Bundeswehr gewonnen werden, Tendenz steigend. Das hofft man zumindest im Ministerium. Der Zielwert ist nicht nur eine Schätzung, wie viele fähige Freiwillige sich finden lassen werden, sondern orientiert sich auch an den strukturellen Grenzen der Bundeswehr.

"Mehr als 10.000 zusätzliche Wehrdienstleistende pro Jahr würde unsere Kapazitäten sprengen", sagt einer, der Pistorius' Pläne kennt. Für mehr Rekruten gebe es schlicht nicht genug Ausbilder, Kasernen und Waffen zum Üben. Der zusätzliche Verwaltungsaufwand soll mit wenigen hundert Beamten zu stemmen sein, schätzt man im Ministerium.

Das Ziel der Reform hat Pistorius am Mittwoch im Bundestag nochmal dargelegt: Es gehe nicht darum, die Personalnot der Bundeswehr zu lösen, sondern ihre "Aufwuchsfähigkeit" zu stärken. Im militärischen Fachjargon wird damit die Fähigkeit von Streitkräften bezeichnet, im Verteidigungsfall auf ausreichend Reservisten zurückgreifen zu können, um einem Angriff möglichst lange standzuhalten. Aktuell könnten im Kriegsfall nur wenige zehntausend Reservisten beordert werden. 1990 waren es noch rund 800.000.

Scholz will am liebsten gar keine Pflicht

Die entscheidende Frage wird also sein: Wie viel staatlichen Zwang hält Pistorius für nötig – und wie viel für politisch möglich? Der Minister musste zuletzt einsehen, dass es für eine echte Wehrpflichtreform keine politischen Mehrheiten gibt: Sowohl Grüne und FDP als auch große Teile der SPD sind gegen staatlichen Zwang beim Wehrdienst.

Auch der Kanzler soll nach t-online-Informationen gegenüber jeder Art von Pflicht skeptisch sein. Selbst die verpflichtende Einsendung des Online-Fragebogens soll Scholz schon zu viel sein. Wie wenig Rückendeckung er seinem Minister in der Frage gibt, hatte der Kanzler zuletzt öffentlich in Schweden demonstriert, als er die Wehrpläne seines Parteifreundes süffisant kleinredete.

Wehrpflicht light

Der Verteidigungsminister musste also sein Modell an die politischen Kräfteverhältnisse anpassen. Ursprünglich hatte Pistorius eine Art schwedisches Modell favorisiert, das auch junge Menschen gegen ihren Willen einzieht. Pistorius' jetziger 'Wehrpflicht light' hat nur noch wenig mit der schwedischen Wehrpflicht zu tun. Er baue "stark auf einem freiheitlichen Grundgedanken" auf, sagt einer, der die Pläne kennt.

Im Verteidigungsministerium hingegen spricht man von einer "gesichtswahrenden Lösung". Manch einer fragt sich, warum Pistorius nicht bei seinem Ursprungskonzept geblieben sei. "Am Ende hätte er sagen können: Ich habe es immerhin versucht."

Doch am Ende wollte Pistorius vermutlich nicht auf volle Konfrontation mit dem Kanzler gehen. Um auch die wahlkämpfende SPD zu schonen, wird die erste Vorstellung vor einem größeren Kreis am 12. Juni stattfinden. Drei Tage nach der Europawahl.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Regierungsbefragung im Bundestag am 5. Juni 2024
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