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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mammutprojekt Bahnreform Herr Wissing sucht den Bremsklotz
Überlastetes Schienennetz, unpünktliche Züge: Volker Wissing hat die Modernisierung der Bahn nun zur "Chefsache" erklärt. Die Geschichte eines fast unmöglichen Plans.
Scharfe Ansagen werden in der Politik oft in harmlos klingende Sätze verpackt. Eine solche Ansage findet sich auf Seite 20 des "Einzelplans 12" für die Haushaltsausschusssitzung am 19. Mai über das Verkehrsministerium. Es geht dabei um die Ausgaben des Bundes. Die drei Ampelparteien schreiben in dem Papier, die Bundesregierung sei aufgefordert, "erheblich mehr in die Schiene als in die Straße zu investieren".
Es klingt nüchtern. Doch der Satz ist mehr als eine Randnotiz: Aus dem Ausschuss, wo die Milliarden verteilt werden, appellieren die Parlamentarier von FDP, Grünen und SPD an den Verkehrsminister ihrer eigenen Bundesregierung: Halte dich an den Koalitionsvertrag, investiere mehr in die Bahn als ins Auto. Bei der Verkehrswende wollen die Regierungskoalitionen ganz sicher sein, dass es in die richtige Richtung geht.
Denn mittlerweile wird klar, wie groß das Desaster ist. Die Deutsche Bahn wirkt in diesen Wochen wie eine Dampfmaschine am Rande des Kollapses: schwerfällig, überlastet, aus der Zeit gefallen. Das Schienennetz ist marode, viele Baustellen bremsen den Betrieb aus. Die Bahn ist so unpünktlich wie lange nicht, nach Angaben des Verkehrsministeriums waren zuletzt weniger als zwei Drittel aller Fernverkehrs- und Güterzüge im Zeitplan. Über 200 Güterzüge stehen aktuell still – weil keine Kapazitäten auf der Schiene frei sind. Und durch das frisch eingeführte 9-Euro-Ticket wird der Nahverkehr nicht nur zusätzlich belastet. Sondern die Probleme der Bahn bekommen viele Bürger nun täglich zu spüren. Ausgerechnet jetzt, in der Urlaubszeit.
Wie lange kann das so weitergehen?
Bei der Misere geht es für die Berliner Ampelkoalition um ihre politische DNA. Eine zunehmende Nutzung der Bahn könnte dabei helfen, die Klimaziele einzuhalten. Bis 2030 soll sich die Zahl der Passagiere verdoppeln und die Züge im sogenannten "Deutschlandtakt" das Land durchqueren. Gleichzeitig sollen die wichtigsten Schienenstrecken, genannt Korridore, bis 2030 modernisiert sein.
Und bald ist schon 2023. Gewinnen soll den Wettlauf gegen die Zeit Volker Wissing, der Verkehrsminister von der FDP. Wissing gilt als kluger Kopf, doch in diesen Wochen wird klar, welche eine Aufgabe auf ihn wartet. Bereits vor Wochen hatte der 52-Jährige erklärt, dass er nicht einen Schalter bei der Bahn umlegen könne und alles laufe problemlos. Jetzt muss er es trotzdem versuchen. Manche sagen: Die Modernisierung der Bahn ist ein Mammutprojekt. Andere sagen: Im angestrebten Zeitrahmen ist sie praktisch unmöglich.
Verkehrsminister Wissing wollte vor wenigen Tagen keinen Zweifel daran lassen, was künftig seine oberste Priorität ist. In einer Pressekonferenz feuerte er einen kantigen Satz nach dem anderen über die Bahn ab. Etwa: "So wie es ist, kann es nicht bleiben." Oder: "Ich erwarte, dass wir in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können."
Sein Appell gipfelte in dem Satz: "Ich will die Probleme angehen und lösen, indem ich sie zur Chefsache mache." Kurz darauf bekräftige er das noch einmal in der "Bild am Sonntag". Es klang ein bisschen so, als sei Wissing jetzt selbst der eigentliche Bahnchef. Das war schon deshalb bemerkenswert, weil er die Pressekonferenz in der vergangenen Woche gemeinsam mit Richard Lutz, dem amtierenden Chef der Deutschen Bahn, gab. Und dann ließ Wissing noch die Bemerkung fallen, dass er in seinem Ministerium eine "Koordinierungsstelle" zur Modernisierung des Betriebs installieren wolle. Damit wolle er die Umsetzung der Bauarbeiten bei der Bahn überwachen.
Und dann krachte es
Einen Tag später krachte es: Der bisherige Bahn-Aufsichtsratsvorsitzende Michael Odenwald trat zurück. Die angekündigte "Koordinierungsstelle" sah er – wohl nicht zu Unrecht – als Entmachtung an.
Es wird nicht leicht für Volker Wissing. Sein letzter Erfolg, das 9-Euro-Ticket, ist endlich. Bei RTL/n-tv schloss er aus, dass es verlängert wird, es kostet den Bund zu viel Geld, rund eine Milliarde Euro pro Monat. Das Ticket ist auch deshalb so beliebt, weil es einfach ist. Ein extrem niedriger Preis, jede Nahverkehrsverbindung kann genutzt werden, deutschlandweit. Doch Wissings Kalkül geht so: Bevor die Bahn dauerhaft unkompliziert genutzt werden kann, muss sie zunächst instand gesetzt werden.
Einige Hundert Meter vom Bundestag entfernt sitzt Dirk Flege in seinem Büro und sieht unzufrieden aus. Flege ist Geschäftsführer von "Allianz pro Schiene", einem Lobbyverband, der sich für die Modernisierung der Bahn einsetzt. Er trägt ein kurzärmliges Hemd, verschränkt die Arme vor der Brust und sagt: "Die Probleme steigen exponentiell." Einen Großteil des Schienennetzes habe man weggestrichen.
Die Anzahl von Beförderungen bei Personen und im Güterverkehr stieg in den letzten Jahren stark an, das Schienennetz wurde reduziert. Es wurde in den Jahren seit 1994, als die Bahn privatisiert wurde, von etwa 44.000 auf etwa 38.000 Kilometer geschrumpft. Gleichzeitig fahren immer mehr Züge über die alten und teilweise maroden Schienen. Flege sagt: "Das Netz ist kurz vor dem Kollaps."
Für Stellwerke blieb wenig Zeit
Volker Wissing will deshalb das Netz modernisieren, dazu hat sein Ministerium auf der eigenen Homepage sogenannte "Korridore" in einer Deutschlandkarte eingezeichnet. Noch verlaufen diese im Westen von Nord nach Süd. Die Sanierung des ersten Korridors soll 2024 starten, bis 2030 sollen alle Korridore, dann auch im Osten, modernisiert sein. Nach und nach könnten so die wichtigsten Trassen instand gesetzt werden. Im Verkehrsministerium nennt man das "Hochleistungsnetz". Für die "großflächige Modernisierung des Netzes", kündigte Wissing nun in der "Bild am Sonntag" an, werde man in den nächsten anderthalb Jahren "alle Verbesserungsmaßnahmen einleiten, die wir dafür brauchen."
Das heißt aber auch: Erst mal geschieht wenig Konkretes. Und was eben auch zur Wahrheit dazugehört: Verbesserungen bei der Bahn werden seit Jahren, nein: Jahrzehnten, versprochen. Doch grundlegend geändert hat sich kaum etwas.
Auch die Stellwerke sind alt, ihr Durchschnittsalter liegt bei 49 Jahren, und auf dem zusammengeschrumpften Netz fahren so viele Züge wie noch nie. Die Bahn hat lange Zeit auf öffentlichkeitswirksame Schnellverbindungen gesetzt: Berlin nach München in unter vier Stunden, es gab viel Aufmerksamkeit, darauf lag der Fokus. Für Stellwerke blieb da wenig Zeit. Wissings Aufgabenliste ist lang.
Alles auf einmal, das ist jetzt die Devise
Und Wissing plant zudem, die gesamte Baustellenpolitik seines Ministeriums neu auszurichten. Aktuell kann es passieren, dass manche Bahnhöfe gesperrt werden, um sie barrierefrei umzubauen. Wenige Monate später dann die nächste Sperrung – dieses Mal für einen Ausbau der Oberleitung. Der Grund dafür: Die beiden Maßnahmen werden aus unterschiedlichen Töpfen bezahlt.
Künftig soll das anders laufen, heißt es im Verkehrsministerium. Von einem "erstklassigen Ausstattungsstandard" bei der Bahn ist die Rede. Alles auf einmal, statt Flickwerk. Doch gerade, weil Baustellen in den nächsten Jahren gebündelt werden, bedeutet das zunächst: Noch mehr Verzögerungen, noch mehr Verspätungen, noch mehr Zugausfälle. Und es steht eine grundsätzliche Überarbeitung der verschiedenen Förderprogramme an, eine bessere Koordination der Maßnahmen müsste in hoher Geschwindigkeit greifen, damit der Zeitplan bis 2030 eingehalten werden kann.
Ein schlauer Taktiker, aber kein Verkäufer
Und dann ist da noch die Frage der Finanzierung. Im aktuellen Haushalt gibt es zwar etwas mehr Geld für den Ausbau des Schienennetzes. Doch für die nächsten Jahre ist kein Anstieg des Etats vorgesehen. Eine gewaltige Hypothek für Wissing. Denn langfristige Bauarbeiten können so kaum geplant werden.
Für Wissing gibt es noch ein weiteres Problem. Nach einem halben Jahr Ampelregierung klagen etliche Abgeordnete der Koalition: Wissing sei kein Politik-Verkäufer. Ein schlauer Taktiker, das schon. Doch er gilt vielen eher als Technokrat. Die Abgeordneten müssten jeder kleinen Information hinterherrennen, sagen manche aus der Koalition.
Über seinen Vorgänger, CSU-Mann Andreas Scheuer, hieß es in Berlin: Der habe behauptet, jede gute Idee in der Verkehrspolitik sei eigentlich von ihm. Über Wissing heißt es jetzt: Selbst wenn er eine gute Idee habe – man erfahre davon gar nichts. Das war jedoch noch vor der Pressekonferenz am Mittwoch. Mancher hofft, künftig mehr solcher Auftritte zu sehen.
Wissing hat sich viel vorgenommen, es geht auch um seine Karriere. Laut "Spiegel" finden nur 14 Prozent der Deutschen, dass er eine wichtige Rolle spielen sollte. Er belegt damit den vorletzten Platz, lediglich seine Kabinettskollegin, Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, kommt noch hinter ihm. Und was seine "Chefsache" ist, das hat Wissing nun mehrmals betont. Die Frage nach der Zukunft der Bahn, sie könnte zur Frage über die Zukunft von Volker Wissing werden.
- Eigene Recherche