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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Politik Als die Ampel kurz mal die Revolution probte
Die Corona-Krise verschärft sich dramatisch – und die Ampel schärft ihr Gesetz dramatisch nach. Sogar ein angebliches Missverständnis könnte in Wahrheit nur Mittel zum Zweck sein.
Es ist kurz nach 12 Uhr am Montagmittag, als Katrin Göring-Eckardt im Bundestag eine Corona-Revolution verkündet, die sie nur wenige Stunden später erst mal wieder abblasen muss. Die Grünen-Fraktionschefin steht in einem roten Blazer vor einer grünen Wand und sagt ein paar Sätze, die vor allem die gelbe FDP schwer irritieren. Aber eben längst nicht nur die.
"Wir werden eine Impfpflicht brauchen für Einrichtungen, bei Pflegeheimen, bei Kindertagesstätten et cetera. Wir werden das auf den Weg bringen", sagt Göring-Eckardt, die derzeit die oberste Corona-Verhandlerin ihrer Partei ist. Das werde zwar nicht im aktuellen Gesetz möglich sein, sondern in einem anderen. "Aber wir sehen das vor."
Wie bitte?
Ob das mit der Impfpflicht denn Konsens sei in der Ampel, also auch bei FDP und SPD, fragt eine Journalistin nach. "Ja", beeilt sich Göring-Eckardt zu antworten, noch bevor die Journalistin ihre zweite Frage stellen kann. Wenig später sicherheitshalber noch mal die Nachfrage: Impfpflicht? Konsens? "Ja, hatte ich gesagt, ja", bestätigt Göring-Eckardt, ein zweites Mal.
Die Ampel, die sich Ende vergangener Woche nicht mal einig war, ob sie den Druck auf Ungeimpfte in der Corona-Krise überhaupt irgendwie merklich erhöhen sollte, fordert also plötzlich eine Impfpflicht für sensible Einrichtungen? Auch die FDP? Wirklich?
Es ist noch nicht einmal 16 Uhr am selben Tag, als klar wird: Diese Revolution wird dann doch vorerst abgeblasen. In einem eilig einberufenen weiteren Pressestatement, bei dem nun auch SPD und FDP dabei sind, müssen sich die Grünen korrigieren. "Über eine Impfpflicht in einigen Einrichtungen gibt es keine Einigung", sagt Göring-Eckardt. "Wenn ich da missverstanden worden bin, tut es mir leid."
Missverstanden? Nun ja.
Man kann diese Posse um die Impfpflicht als ein Symptom deuten. Als Symptom einer chaotischen Politik in dieser absehbaren vierten Corona-Welle, die Gesundheitsminister Jens Spahn offensichtlich unzureichend vorbereitet hat, und von der die Ampelkoalitionäre nun überfordert sind. Und damit läge man sicher nicht falsch.
Man kann die Impfpflicht-Posse aber auch noch anders lesen. Nämlich als einen Hinweis darauf, wie sehr sich die Ampelkoalitionäre in den vergangenen Tagen selbst überholt haben mit neuen Verschärfungen, die noch Tage zuvor undenkbar schienen. Und zwar trotz aller Differenzen in der Ampel. Ein Corona-Revolutiönchen gewissermaßen, selbst wenn die große Revolution dann doch ausbleibt.
Zumindest vorerst.
Eine andere Corona-Welt in wenigen Tagen
Am vergangenen Donnerstag jedenfalls, da schien die Ampelkoalition noch in einer ganz anderen Corona-Welt zu leben. Die 3G-Pflicht am Arbeitsplatz war damals, vor nur fünf Tagen, fast das höchste aller Ampelgefühle. Wohl-bald-Kanzler Olaf Scholz hielt es bei seiner unterkühlten Rede im Bundestag noch "für einen guten Fortschritt", dass "überall" in den Ländern 2G gemacht werde. Wobei das "überall" eher Wunsch als Wirklichkeit war (und noch immer ist).
Inzwischen aber scheint es nur noch weniges zu geben, das ausgeschlossen ist für die Ampel. So jedenfalls kann man die Verschärfungen des Gesetzentwurfes verstehen:
- Die Länder sollen jetzt doch noch Kontaktbeschränkungen verhängen können, erst einmal für Ungeimpfte.
- Sie sollen weiterhin die Möglichkeit haben, Veranstaltungen und Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit einzuschränken oder zu verbieten.
- Es soll nicht nur 3G am Arbeitsplatz geben, sondern wieder eine Homeoffice-Pflicht für diejenigen, die von zu Hause arbeiten können.
- Plötzlich scheint sogar möglich zu sein, was das Verkehrsministerium bisher schlichtweg für undurchführbar erklärt hatte: Dass nämlich die Schaffner im öffentlichen Nah- und Fernverkehr neben dem Fahrschein auch einen 3G-Nachweis kontrollieren.
Besonders die FDP, aber auch die SPD betonen angesichts der rasanten Verschärfungen deshalb gerade sehr fleißig, was jetzt trotzdem nicht mehr möglich sein soll. Weil die Lage durch die Impfungen eben eine andere sei als in den vorigen Corona-Wellen.
Im sogenannten Instrumentenkasten des Infektionsschutzgesetzes, aus dem sich die Länder bedienen sollen, sind generelle Ausgangsbeschränkungen etwa nicht mehr vorgesehen. Reise- und Beherbergungsverbote will die Ampel durch die 3G-Regel in Zügen ersetzen. Und generelle Schließungen von Betrieben, Schulen oder Gaststätten soll es auch nicht mehr geben.
Das sind die neuen roten Linien, zumindest bisher. Stand: heute.
Lindners Patzer und seine Wirkung
"Wenn sich die Lage verändert, muss man die Instrumente anpassen", schrieb FDP-Corona-Chefverhandler Marco Buschmann nach der Einigung auf die Verschärfungen bei Twitter. Es ist zwar eigentlich nicht "die Lage" der Pandemie, die sich so rasch verändert hat, sondern nur die Einschätzung dieser Lage in der Ampelkoalition. Aber die hat sich offensichtlich sehr nachhaltig verändert. Vor allem bei der FDP.
Wie ist es dazu gekommen?
Offiziell schweigt sich die Ampel dazu weitgehend aus, so wie sie es auch in den Koalitionsverhandlungen tut. Inoffiziell ist besonders von Grünen zu hören, wie hart sie für Verschärfungen kämpfen und wie sehr nicht nur die freiheitsliebende FDP überzeugt werden müsse, sondern auch die SPD.
Die rasant steigenden Zahlen hätten natürlich eine Wirkung auf die Verhandlungen, heißt es. Doch ausgerechnet ein weiterer Patzer könnte der FDP einen zusätzlichen Schubser gegeben haben, so zumindest vermutet es mancher. Und zwar ein Patzer des FDP-Chefs Christian Lindner. Der hatte am Freitagabend in den "Tagesthemen" behauptet, dass auch Kontaktbeschränkungen "nach wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit haben".
Eine klassische Falschnachricht.
Die Aufregung war groß, nicht nur auf Twitter, sondern auch unter den Ampelkoalitionären. Der Druck auf Lindner, sich zu entschuldigen, wuchs. Schon am Samstagvormittag dann die Wende: "Wenn ich in den 'Tagesthemen' missverständlich war, bedauere ich das", schrieb Lindner auf Twitter. So weit, so erwartbar.
Doch es war vor allem ein weiterer Halbsatz, den einige Ampelkoalitionäre als möglichen Durchbruch werten, weil die FDP so etwas noch kurz zuvor kaum in den Mund zu nehmen wagte: "An Kontaktbeschränkungen", schrieb Lindner nämlich im selben Tweet, "zweifele ich nicht".
Am Sonntag dann einigte sich die Ampel tatsächlich darauf, den Ländern auch weiterhin genau das zu ermöglichen: Kontaktbeschränkungen.
Ein absichtliches "Missverständnis"?
Könnte Katrin Göring-Eckardts Impfpflicht-Vorstoß jetzt eine ähnliche Wirkung entfalten? In der SPD können sich einige durchaus vorstellen, dass das sogar die eigentliche Intention der Grünen-Fraktionschefin war: die Ampelpartner öffentlich unter Druck zu setzen. Auch weil sie bei ihrer Entschuldigung zwar ein angebliches Missverständnis vorschob, im gleichen Atemzug aber offensiv an ihrer Position festhielt: dass es nämlich eine Impfpflicht für sensible Einrichtungen geben müsse.
Wenn das so sein sollte, wenn es tatsächlich ein Plan war, wäre es ein grüner Alleingang gewesen. Aus informierten SPD-Kreisen heißt es, man habe die "vorschnelle" Verkündung der Einigung "mit einiger Verwunderung" verfolgt. Da sei "nichts entschieden", in vertiefter Form sei das bisher nicht mal in den Beratungen Thema gewesen.
Also viel Lärm um nichts?
Muss nicht sein. Denn auch die SPD hält es generell für richtig, über eine Impfpflicht für sensible Einrichtungen ernsthaft zu diskutieren. Wobei es nach wie vor die Sorge gibt, dass etwa in Altenheimen dann Chaos ausbrechen könnte, weil Pfleger lieber nicht mehr zur Arbeit kommen könnten, als sich impfen zu lassen. Man wisse bisher schlicht zu wenig über die Dimension des Problems und die Beweggründe der Skeptischen.
Selbst die FDP, die lange so verstanden wurde, ziemlich pauschal gegen eine Impfpflicht zu sein, will das plötzlich gar nicht mehr so pauschal verstanden wissen. "Wir haben nie kategorisch eine Impfpflicht abgelehnt", sagte FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann am Dienstag im rbb. Über eine einrichtungsspezifische Pflicht müsse man "intensiv reden".
Wird es was nützen?
Ob eine Impfpflicht die nötige Akutlösung in der Krise sein kann, daran kann man zwar begründet zweifeln. Denn die Debatte darüber, der Gesetzgebungsprozess, und dann die Impfungen – das alles dürfte schlicht zu lange dauern. Ein Baustein im vielbeschworenen Instrumentenkasten gegen die Pandemie könnte sie aber wohl schon sein.
Zumindest wenn viele andere Verschärfungen jetzt wirklich schnell in Kraft treten, und nicht nur eine Möglichkeit im Gesetzestext der Ampel bleiben. Dafür aber reicht es nun ironischerweise nicht mehr aus, wenn sich nur die Ampelkoalitionäre immer wieder selbst überholen. Denn es sind die Länder, die fast alle Einschränkungen für sich selbst beschließen müssen. Auch das wollte die Ampel ausdrücklich so.
Wie hart fährt Deutschland jetzt tatsächlich runter? Die Vorentscheidung darüber wird also vor allem auf der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstagnachmittag fallen.
Auch die Länder müssen sich jetzt selbst überholen, um das Schlimmste zu verhindern.
- Eigene Gespräche und Recherchen
- YouTube: Erstes Statement von Katrin Göring-Eckardt im Video