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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Milliarden-Kredite Milliarden-Kredite – Herr Scholz, was passiert mit all dem Geld?
Eigentlich ist der Finanzminister derzeit gelassen. Doch als es im Interview um die Flüchtlingspolitik, den Kampf gegen Geldwäsche und Verstöße gegen Corona-Regeln geht, ist Olaf Scholz richtig angriffslustig.
t-online: Herr Scholz, geheime Dokumente aus dem US-Finanzministerium – die sogenannten FinCEN-Files – zeigen, dass Banken und Behörden beim Kampf gegen Geldwäsche versagen. Hat Sie das Ausmaß überrascht?
Olaf Scholz: Geldwäsche ist ein großes Problem. Wie groß, ist den zuständigen Behörden seit langem bekannt. Die jüngsten Veröffentlichungen sind wertvoll, weil nun jeder das Ausmaß ermessen kann. Auch wenn die Fälle zumeist Jahre zurückliegen, prüfen wir, ob sich für uns neue Anhaltspunkte ergeben.
Deutschland gilt eher als Geldwäsche-Paradies.
Es kommt nicht von ungefähr, dass ich den Kampf gegen die Geldwäsche in meiner Amtszeit so intensiviert habe – personell, finanziell und auch mit neuen Befugnissen. Unsere Financial Intelligence Unit, die von der Polizei zum Zoll verlagert worden ist, habe ich von 150 auf fast 500 Beschäftigte ausgebaut, ihr zusätzliche Befugnisse gegeben und viel Geld für moderne IT und den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Verfügung gestellt.
Mit welchem Ergebnis?
Allein zwischen 2017 und 2019 hat sich die Zahl der Verdachtsfälle von rund 60.000 auf 115.000 pro Jahr fast verdoppelt, Tendenz steigend. Die Hinweise stammen von Banken und anderen Finanzakteuren und müssen rasch geprüft werden, damit Ermittler und Staatsanwaltschaften rasch einem konkret Verdacht nachgehen können. Um das zu bewältigen, braucht es kluge Softwarelösungen.
Ist Geldwäsche nicht ein verniedlichender Begriff? Immerhin geht es um Geld, das aus illegaler Prostitution, Menschenhandel, Schmuggel oder Drogenhandel stammt.
Absolut – nur hat sich der Begriff etabliert. Aber ich hoffe, dass sich all jene, die sich jetzt über die Enthüllungen zurecht empören, noch daran erinnern werden, wenn ich das nächste Gesetz gegen Geldwäsche auf den Weg bringe. Da wäre manchmal mehr Unterstützung schön.
Worauf spielen Sie an?
Auf die Empörung über zusätzliche Bürokratie oder staatliche Gängelung, die regelmäßig solche Vorstöße begleitet. Ein Beispiel: Als wir unlängst geregelt haben, dass Käufer ihre Identität angeben müssen, wenn sie für mehr als 2000 Euro Gold kaufen, kritisierten viele dies als unnötige Bürokratie.
Neben Geldwäsche ist auch Steuerhinterziehung ein Problem. Wäre es nicht ein sinnvoller Beitrag für mehr Steuerehrlichkeit, wenn etwa Geschäfte und Restaurants Kartenzahlung akzeptieren müssten.
Bargeld ist aber unverändert sehr beliebt.
Es geht auch nicht um die Abschaffung von Bargeld. Aber Schilder wie "Nur Bargeldzahlung" oder "Kartenzahlung erst ab 20 Euro" gibt es fast nur noch in Deutschland.
Für die Steuerehrlichkeit führen wir ja gerade im Einzelhandel und in der Gastronomie manipulationssichere Kassen ein. Damit wollen wir sicherstellen, dass auch alle Umsätze tatsächlich verbucht werden. Das ist ein langer Kampf – ich erinnere nur mal an die Aufregung um die Bonpflicht.
Die Registrierkassen sind in der Branche ähnlich beliebt wie die Bonpflicht, oder?
Das genau ist das Problem: Die öffentlichen Reaktionen sind merkwürdig gespalten. Regeln für mehr Steuerehrlichkeit müssen jedes Mal hart durchgekämpft werden, teils gegen erhebliche Widerstände. Wenn dann wieder ein Betrugsfall bekannt wird, fragen mitunter dieselben Leute: Wieso gibt es keine strikteren Regeln?
Immerhin haben Sie Unterstützung für viele neue Schulden in der Corona-Krise. In diesem Jahr nimmt der Bund weit über 200 Milliarden Euro neue Kredite auf, 2021 noch einmal fast 100 Milliarden. Was passiert eigentlich mit all diesem Geld?
Mit dem Geld haben wir dafür gesorgt, die Gesundheit der Bürger zu schützen und Leben zu retten, weil wir viel in die Ertüchtigung des Gesundheitssystems gesteckt haben und das weiter tun. Dann geht es auch um die Rettung von Arbeitsplätzen und die Sicherung von Existenzen. Wir haben Kurzarbeit für Millionen von Beschäftigten ermöglicht und so Entlassungen vermieden und den Unternehmen ausreichend Liquidität zur Verfügung gestellt, um unnötige Insolvenzen zu vermeiden. Der Sozialstaat zeigt gerade seine Stärken.
Wie viel finanziellen Spielraum haben Sie noch, falls der Corona-Winter deutlich härter wird als gedacht?
Deutschland hat eine große finanzielle Kraft. Gerade haben wir viele Programme zum Erhalt von Arbeitsplätzen verlängert. Unser Atem reicht lang. Uns hilft auch, dass wir besser durch die Krise zu kommen scheinen als anfangs befürchtet.
Inwiefern?
Es sieht danach aus, dass wir Anfang 2022 wirtschaftlich das Vorkrisenniveau wieder erreichen können.
Also die Wirtschaftsleistung von 2019?
Genau. Das ist wirklich besser, als wir noch vor einigen Monaten erhoffen durften. Und weil wir vor der Krise lange ordentlich gewirtschaftet hatten, werden wir nach Corona wohl ein Schuldenniveau haben, das noch unter 80 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen wird.
Das klingt trotzdem viel.
Ein solches Schuldenniveau nach der Krise wäre deutlich niedriger als das, was die meisten Länder vor der Krise an Schulden aufwiesen. Und es entspricht ungefähr dem Wert, den wir nach der Finanzkrise vor zehn Jahren hatten, damals waren es etwas mehr als 80 Prozent. Dann ist es uns gelungen, innerhalb von neun Jahren die Schuldenquote auf unter 60 Prozent zu drücken und Ende 2019 erstmals wieder alle Kriterien des Maastricht-Vertrags zu erfüllen.
Deutschland beteiligt sich am größten Hilfsprogramm, das es in der EU jemals gab. Mit insgesamt 750 Milliarden Euro soll die Konjunktur in Europa belebt werden, mehr als die Hälfte davon sind Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Die Bundesrepublik zahlt in den Fonds deutlich mehr ein als sie herausbekommt, ist also solidarisch. Gleichzeitig erleben wir, dass andere Staaten mit uns nicht solidarisch sind, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Sind wir eigentlich naiv?
Wir haben doch ein eigenes Interesse daran, die Konjunktur in Europa zu stärken, weil unsere Unternehmen überall in Europa aktiv sind. Wir stabilisieren mit der europäischen Volkswirtschaft auch unsere Wirtschaft und die hiesigen Arbeitsplätze.
Das klingt jetzt schon fast wieder egoistisch.
Ich würde eher sagen: vernünftig. Und was die Migration angeht sollten wir aufpassen, die Geschichte nicht zu einseitig zu erzählen. Deutschland hat sich seinerzeit nicht verantwortlich gefühlt, als die Flüchtlinge noch vor allem in Spanien und Italien anlandeten. Damals haben wir gesagt, das ist deren Problem. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass es im Jahr 2015 keine europäische Hilfe gab, als viele Flüchtlinge in Deutschland ankamen.
Und das heißt für die Zukunft?
Wir müssen uns bemühen, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik zu formulieren. Das erreicht man aber nur, wenn man beharrlich daran arbeitet.
Ist das Problem angesichts seiner Dimension überhaupt abschließend lösbar?
Niemand sollte der Illusion anhängen, dass wir dieses Problem mit einer Entscheidung ein für allemal lösen können. Solange die Unterschiede auf der Welt so gravierend sind, solange es auf allen Erdteilen Millionen von Flüchtlingen gibt, wird diese Herausforderung bestehen bleiben. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame, pragmatische und humanitäre Antwort. Wie diese Antwort lautet, müssen wir miteinander erstreiten.
Viele, die Verantwortung haben, gehen dem Streit aber lieber aus dem Weg.
Wer sich vor Streit fürchtet, soll sich einen anderen Job suchen.
Zurück nach Deutschland: In den vergangenen Wochen haben zig Unternehmen den Abbau Tausender Arbeitsplätze angekündigt. Droht eine Deindustrialisierung?
So bitter diese Ankündigungen sind: Sie sind der Gegenbeweis für die gerne bemühte Behauptung, dass wir mit unseren Hilfsprogrammen Firmen, die nicht lebensfähig seien, künstlich am Leben hielten – so genannte Zombie-Unternehmen. Das ist Unsinn. Wir verschaffen Unternehmen, die in einer schwierigen Lage sind, aber eine Perspektive, die nötige Puste.
Trotzdem war ein im internationalen Vergleich hoher Anteil von Industriejobs immer ein Markenzeichen der Bundesrepublik.
Und ich hoffe sehr, dass das auch nach dieser Krise so bleibt. Das nächste Jahrzehnt entscheidet darüber, wie wir Deutschlands Zukunft sichern. Unser Land muss technologisch führend bleiben. Denn nur mit den Dingen, die wir jetzt noch nicht herstellen, werden wir in Zukunft gutes Geld verdienen. Dafür brauchen wir dringend Investitionen in Forschung und Entwicklung und in die Infrastruktur. Deshalb setzen wir mit unserem Konjunkturprogramm unter anderem Schwerpunkte bei der Digitalisierung. Hier brauchen wir einen echten Innovationsschub und ich bin zuversichtlich, dass wir den jetzt auch wirklich hinbekommen.
Der große Innovationsschub wird vermutlich erst möglich sein, wenn die Corona-Pandemie eingedämmt ist. Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass die Bürger die Corona-Vorschriften noch einhalten?
Überwiegend ja. Und neben einem entschlossen handelnden Staat ist für mich diese beeindruckende Bereitschaft der allermeisten Bürgerinnen und Bürger, sich an die Regeln zu halten, ein Grund dafür, warum wir bislang gut durch diese Pandemie kommen. Anders lassen sich unsere im internationalen Vergleich noch immer ganz ordentlichen Infektionszahlen kaum erklären.
Sagen Sie das jetzt, weil Sie Kanzler werden wollen, oder weil Sie das wirklich glauben?
Ich sage das, weil ich es so meine. Warum fragen Sie?
Wenn wir Ihre Analyse mit unseren Beobachtungen im Alltag vergleichen, kommen uns Ihre Ausführungen eher wie Wunschdenken als eine Beschreibung der Realität vor.
Die Corona-Regeln werden nicht immer und überall komplett eingehalten – und das ist unverantwortlich. Doch im Großen und Ganzen klappt es. Für Statistiker ist genau das auch die Erklärung, warum es in Deutschland besser läuft als in anderen Ländern: die Disziplin der Bürgerinnen und Bürger.
Nach dieser Logik wären eigentlich nur noch die Chinesen disziplinierter als die Deutschen.
Es spielen natürlich viele Faktoren für die Infektionszahlen eine Rolle. Aber ohne Vorsicht geht es nicht – und ohne Einsicht natürlich auch nicht.
Noch ist beim Großteil der Bevölkerung genug Einsicht da?
Das glaube ich. Und die Einsicht wird weiterwachsen, denn alle wissen doch, dass wir gefordert sind, solange das Virus da ist. Und das wird noch lange der Fall sein. Solange wir keine besseren Therapien und keine Impfstoffe haben, müssen wir uns und unsere Mitmenschen durch die Vorsichtsregeln und Masken schützen. Es kommt auf uns alle an.
Das klingt uns zu sehr nach politischem Poesiealbum. Die Bilder von einigen Spielen im DFB-Pokal, die Bayern-Bosse, die vergangene Woche vergnüglich nebeneinander im Stadion saßen – das gibt es doch auch oder etwa nicht?
Ja, die Bilder empören viele. Ich bin Ihnen und anderen Medien dankbar, dass Sie diese Bilder zeigen, weil sie Teil eines gemeinschaftlichen Prozesses sind, in dem sich die Einsicht durchsetzt, dass man das so nicht machen sollte.
Die Corona-Krise ist also ein nicht enden wollender Prozess der Einsichtsgewinnung?
Darauf müssen wir setzen.
Falls es nicht so funktioniert, wie Sie hoffen: Sind auch wieder härtere Einschnitte möglich, wenn die Infektionszahlen weiter steigen?
Die Fachleute verstehen das Virus langsam besser. Wir haben viel Geld mobilisiert, um das öffentliche Gesundheitswesen zu stärken. Es gibt deutlich mehr Beschäftigte, um Infektionen nachzuverfolgen, und es werden zunehmend modernere Technologien eingesetzt…
…das ist im Zusammenhang mit der deutschen Verwaltung eine mutige Aussage.
Wir sind sicherlich noch nicht überall da, wo wir hinwollen, aber auf dem Weg. Was wir tun, dient einem Ziel: Dort, wo es ein größeres Infektionsgeschehen gibt, müssen wir schnell reagieren und nicht zögern.
Trotzdem nochmal die Frage: Hat die Politik überhaupt noch die Kraft, schärfere Maßnahmen durchzusetzen? Anfang September hieß es von der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten, weitere Lockerungen seien nicht verantwortbar. Nun gibt es doch Fans in den Stadien.
Dass die Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten stundenlang diskutiert, führt dazu, dass wir bessere Entscheidungen treffen. Es ist ja nicht so, dass es immer nur die eine richtige Schlussfolgerung gibt oder dass wir nur einem Computer eine Frage stellen müssen und die richtige Antwort bekommen. Auch wenn nicht alles perfekt läuft: Ich bin froh über unseren Föderalismus, weil wir zu besseren und regional passenderen Lösungen kommen.
- Interview mit Vizekanzler Olaf Scholz am 21. September