Pressestimmen zur Debatte um Juso-Chef "Wer es wie Kühnert angeht, macht sich lächerlich"
Kommt mit Kevin Kühnert die DDR zurück? Oder stößt er eine wichtige Debatte an? Die Presse ist sich da nicht einig. Ein Überblick über die Kommentare.
Kevin Kühnert meint es ernst. Das hat der Chef der Jungsozialisten, der Jusos, nun noch einmal klargestellt. Seine Thesen gegen den Kapitalismus und für einen demokratischen Sozialismus lösen weiterhin ein großes Echo in Politik und Medien aus. Ein Überblick über die Kommentierungen in der Presse:
Die konservative "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt:
"Auf den Gedanken, die Reformen der Schröder-Jahre nicht als Rückschritt, sondern als Fortentwicklung sozialdemokratischer Programmatik zu begreifen, kommt in der SPD heute niemand mehr. Nicht nur die frohlockende Linkspartei, auch die SPD-Linke verspricht sich von dieser Restauration den Aufwind, den andernorts ein Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn erlebt haben. Sie wirken in ihren klassenkämpferischen Kostümen, mit ihren Anleihen aus den Tagen des Frühkapitalismus, mit ihren lehrbuchhaften Ideen, die dem vorletzten Jahrhundert entstiegen zu sein scheinen, seltsam aus der Zeit gefallen. Wie übrigens auch ihr Widerpart, die Nationalisten. Das erste Mal, da hatte Karl Marx wohl recht, enden solche utopischen Verstiegenheiten als Tragödie, das zweite Mal als Farce."
Die "Süddeutsche Zeitung" zeigt sich mit Blick auf den Wahlkampf auch nicht begeistert:
"Die SPD hätte die Debatte um Kühnerts Äußerungen zum jetzigen Zeitpunkt wirklich nicht gebraucht. Wichtige Wahlen stehen an. Die politischen Gegner werden keine Gelegenheit auslassen, die SPD als Partei darzustellen, die nun BMW und den anderen Autobauern an den Kragen will und private Vermietungen verteufelt. Mag sein, dass sich vor allem viele Jüngere, die sich für Politik interessieren, solch radikale Ansätze wünschen. Die SPD ist aber gerade mit einer moderaten Profilschärfung etwas zur Ruhe gekommen. Sie macht insgesamt einen sortierteren Eindruck als noch vor einigen Monaten. Kevin Kühnert schrumpft sich mit seinen Äußerungen selbst auf die Rolle des Juso-Chefs zurück."
Das linksliberale Nachrichtenportal "Zeit Online" lobt Kühnerts Ideen:
"Indem Kühnert wieder daran erinnert, dass Wirtschaft sich auch anders als kapitalistisch organisieren lässt, öffnet er den Raum auch für konkrete, eher kleinteilige Verbesserungen und Erleichterungen. Nach dem Motto: Wenn wir jetzt schon über eine Kollektivierung von BMW reden – hey – wie harmlos wäre es da eigentlich, erst mal Vermögen stärker zu besteuern? Oder den Mindestlohn anzuheben? Plötzlich erscheinen diese Vorschläge, die bisher schon fast den Ruch des Linksradikalen hatten, in ganz anderem Licht. Insofern könnte Kühnert seiner SPD dann langfristig doch einen Dienst erwiesen haben. Vorausgesetzt, die Debatte ist nicht übermorgen wieder beendet."
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Auch "Spiegel Online" argumentiert in diese Richtung:
"Was die aufgeregten Reaktionen jedenfalls zeigen: Kühnert hat einen Nerv getroffen – oder gleich mehrere. Die wachsende Lohnungleichheit in Deutschland treibt immer mehr Menschen um, genau wie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die Überforderung am Arbeitsplatz. Ob es dabei helfen würde, BMW zu kollektivieren, Immobilienbesitz zu regulieren und Arbeit maximal zu individualisieren? Man könnte jedenfalls die Gelegenheit nutzen, darüber zu diskutieren, anstatt alles sofort mit Totschlagargumenten abzubürsten. Was haben denn CDU, CSU und FDP an eigenen Vorschlägen zu bieten, um diese Probleme anzugehen? Wenig bis nichts."
t-online.de-Chefredakteur Florian Harms kritisiert im Tagesanbruch die Debattenkultur:
"Die Diskussionen in Politik und Medien begegnen uns in diesen Tagen mit der Lautstärke eines hungrigen Löwen und im schwarz-weißen Korsett. Wer sich eine These ausgedacht hat, wählt die drastischsten Vergleiche, um sie unters Volk zu bringen; wer sie für Unfug hält, setzt noch einen oben drauf, und am Ende brüllen wir uns alle gegenseitig auf Twitter und Facebook an. Leise Töne dringen nur noch selten durch, Grautöne werden als Wischiwaschi abgekanzelt. Es regiert die Kraft der kommunikativen Gravitation: Je größer das Geschrei, desto mehr Leute werden davon angezogen und fallen in den Chor der Schreihälse ein." (mehr)
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Kühnerts Ideen schafften es auch ins Ausland. Der österreichische "Standard" schreibt:
"Es gehört zum Berufsbild eines Juso-Chefs, auch die eigene Parteispitze aufzuschrecken. Doch seine Utopie von der klassenlosen Gesellschaft, in der es keine privaten Vermieter und in großen Betrieben keine kapitalistische Ordnung mehr gibt, schießt völlig übers Ziel hinaus. Offenbar hat Kühnert ein paar Anleihen zu viel beim vieldiskutierten Berliner Volksbegehren zur Enteignung von Immobilienkonzernen genommen. Einen solchen Systemwechsel wollen in Deutschland nur eine Handvoll Leute ernsthaft. Der Rest ist froh, dass der Sozialismus mit all seinen negativen Ausprägungen mit der DDR untergegangen ist. Richtig ist: Wohnungsnot und geringe Löhne gehören diskutiert. Aber wer es wie Kühnert angeht, der macht sich dabei lächerlich."
- Mit Material von dpa
- "Frankfurter Allgemeine Zeitung": Die Farce des Kevin Kühnert
- "Süddeutsche Zeitung": Kevin Kühnert träumt sich ins Abseits
- "Zeit Online: Endlich wieder Utopien
- "Spiegel Online": Mehr Ideen, bitte!