Obergrenze und Familiennachzug Die CSU hat das Denken über Flüchtlinge verändert
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die CSU hat zwar keine Obergrenze durchgesetzt, aber die Öffentlichkeit an eine neue Art gewöhnt, über Flucht nachzudenken. Das zeigt sich auch im Kompromiss zum Familiennachzug.
Das erste der drei großen Streitthemen, das Union und SPD ausverhandelt hatten, war der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus. Die Union wollte ihn weiter ausschließen, die SPD eigentlich ermöglichen. Am Ende stand ein Kompromiss:
Bis August dürfen diese Flüchtlinge keine Familienmitglieder zu sich holen. Danach dürfen 1000 Mütter, Väter oder Kinder im Monat kommen. Nach 1000 ist Schluss, einige wenige Härtefälle ausgenommen, das hat die SPD erzwungen.
1000 Flüchtlinge im Monat also, 12.000 im Jahr.
Nur: Warum eigentlich 1000? Warum nicht 800 oder 1500 oder 1743?
Es gibt dafür keine gute Begründung, kein sachliches Argument, keine Berechnung der Kapazitäten von Behörden, Wohnungsmarkt oder Deutschkursen durch ein Bundesamt. Die Zahl ist ein politischer Kompromiss. Niedrig genug, um die Union, hoch genug, um die SPD einigermaßen zufriedenstellen. Schön glatt, so dass sie einfach vermittelt werden kann.
Bemerkenswerter als die Tatsache, dass die Zahl nicht nachvollziehbar hergeleitet werden kann, ist, dass es gar keine Debatte darüber gab, ob sie hergeleitet werden kann. 1000? Dann eben 1000. Es hat sich etwas grundsätzlich verändert in der politischen Debatte, im Verhältnis von Gesellschaft zu Flüchtlingen. Genauer: Die CSU hat etwas verändert in der Debatte.
Der Flüchtling ist zählbar geworden. Er ist jetzt Teil einer Menge.
Über den Platz in der Welt entscheidet das Glück
Um einordnen zu können, was das heißt, muss man sich klar machen, dass es einen Grundwiderspruch gibt, an dem Migrationspolitik nicht vorbeikommt: Niemand kann sich aussuchen, wo er geboren wird. Der Geburtsort entscheidet aber über die Staatsbürgerschaft und die entscheidet darüber, wo ein Mensch sich aufhalten darf.
Von Pech oder Glück hängt ab, ob jemand mehr oder weniger Rechte hat. Rechte sind willkürlich verteilt und das Ergebnis ist deshalb immer ungerecht.
Diese Ungerechtigkeit, die aus der Willkür des historischen Zufalls folgt, wäre nur in einer Welt ohne Staaten und Grenzen aufzulösen - wenn überhaupt.
Also derzeit: gar nicht.
Deshalb kann es eine Migrationspolitik ohne Widersprüche gerade nicht geben. Jede Zuwanderungspolitik ist ein Versuch, mit diesem Widerspruch irgendwie umzugehen.
Das Recht einer Gesellschaft
Die verbreitetste Art, das zu tun, ist, Asyl als Zeichen guten Willens zu verstehen, als Gnadenakt des Schutz gewährenden Monarchen, Staates oder Volkes. In dieser Form existieren Formen des Asyls seit mindestens zweitausend Jahren.
In der Neuzeit kamen Rechte der Geflüchteten dazu. Sie haben etwa Anspruch auf eine bestimmte Behandlung. Und zumindest darauf, nicht dorthin abgeschoben zu werden, wo ihnen ernste Gefahr droht. Das ist etwa in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben. Aber es gilt immer noch: Bestimmte Staaten müssen kein Asyl gewähren.
Doch man kann Asyl auch anders denken, von den Flüchtlingen her, nicht von der Aufnahmegesellschaft. Dann wird der Anspruch auf Asyl ein grundlegendes Recht eines Individuums. Ein Rechtsakt, kein Gnadenakt.
In Deutschland gilt ein individueller Anspruch auf Asyl
Genau das tut das Grundgesetz in Artikel 16a. Nicht Deutschland hat die Möglichkeit, Asyl zu gewähren – jeder und jede, der oder die bestimmte Voraussetzungen erfüllt, hat das Recht, in Deutschland Asyl zu erhalten. Und kann es prinzipiell einklagen. Das ist eine Folge aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus.
Allerdings, auch in Deutschland war das universelle Menschenrecht auf Asyl faktisch nie als universelles Menschenrecht angelegt. Es war immer schon eine Idee, ein Versprechen, auf eine Art auch eine Fassade. Würden es sehr viele wahrnehmen, wären plötzlich sehr viele sehr reale Menschen im Land. Mit Körpern, die Platz brauchen, die sichtbar sind, mit Wünschen und Bedürfnissen.
Faktisch war es immer schon ein Sonderrecht für all jene, die verzweifelt oder tollkühn genug sind, es einzufordern. Und glücklich genug, den Weg nach Deutschland zu überleben. Es war ein Recht, das davon lebte, dass es nicht zu oft in Anspruch genommen wurde.
Eine neue Stufe
Das wurde sehr deutlich, als in kurzer Zeit die Zahl der Flüchtlinge anstieg. In den 1990ern war das, wegen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Jugoslawien-Kriege, und seit 2015. Beide Male dauerte es nicht lange, bis Deutschland das Asylrecht massiv verschärfte, um die Zahl zu drücken. Noch immer war das Asylrecht ein Recht jedes einzelnen, aber die Hürden, es in Anspruch zu nehmen, wurden erhöht.
Was in den vergangenen Monaten geschehen ist, markiert nun noch einmal eine neue Stufe.
Es begann mit dem Türkei-Deal: Damals wurde vereinbart, dass die Türkei die illegale Einwanderung in die EU unterbinden und illegal eingereiste Flüchtlinge zurücknehmen würde. Im Gegenzug sollte Europa für jeden zurückgebrachten Flüchtling einen anderen aufnehmen. Da wurde schon verrechnet.
Kontingentflüchtlinge waren der Sonderfall
Flüchtlingsquoten festzulegen, ist freilich keine neue Idee. Im Gegenteil: Ein Staat entscheidet, wie viele Flüchtlinge er aufnehmen, wie viele er unterbringen, versorgen, bezahlen kann, wie viele er seinen Bürgern politisch vermitteln kann, wie viele er als billige Arbeitskräfte braucht. In anderen Ländern ist das sogar die Regel.
Auch Deutschland hat immer wieder eine vorher festgelegte Zahl von Menschen aufgenommen, etwa Vietnamesische Bootsflüchtlinge in den 1980ern oder zuletzt Jesiden aus dem Irak.
Es gibt im Deutschen sogar einen eigenen Begriff für diese Menschen: Kontingentflüchtlinge.
Dass es für sie einen eigenen Begriff gibt, heißt aber auch: Sie sind zu unterscheiden von den anderen Flüchtlingen. Sie sind ein Sonderfall.
Sie waren ein Sonderfall. Bisher.
Die CSU hat ihren Plan durchgesetzt
Dann trat die CSU auf den Plan, mit ihrer Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge: 200.000 Menschen pro Jahr, nicht mehr. Ein Plan, der dem individuellen Grundrecht auf Asyl entgegensteht und der deshalb auch in Reinform nicht durchsetzbar ist – was die CSU aber nie davon abhielt, die Obergrenze zu fordern und hinterher zu behaupten, sie habe sie durchgesetzt.
Hat sie nicht. Was sie aber geschafft hat, die Öffentlichkeit an das Denken in Kontingenten zu gewöhnen. Schon FDP und Grüne waren schnell bereit, sich auf einen Richtwert von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr einzulassen. Man müsse anerkennen, wie wichtig der CSU diese Zahl sei, hieß es aus Reihen der Grünen.
Union und SPD haben sich in den Sondierungen geeinigt, "dass die Zuwanderungszahlen (…) die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden".
Vom Sonderwunsch zur Selbstverständlichkeit
Aus dem anfangs exzentrisch anmutenden Wunsch der CSU ist durch stetige Wiederholung und kompromissloses Verhandeln eine Selbstverständlichkeit geworden. Und so ist nun auch der Familiennachzug exakt angegeben: 1000 pro Monat, als Teilmenge der maximal 220.000 im Jahr.
Der individuelle Asylanspruch existiert noch. Aber er geht auf in einer Gesamtzahl. Der Kontingentflüchtling ist vom Sonderfall zur Norm geworden. Alle anderen zur Abweichung – zum Härtefall.
Was für Gastarbeiter lange galt, gilt in ähnlicher Art für Flüchtlinge: Nicht sie stehen im Mittelpunkt, sondern die Vorstellungen der deutschen Gesellschaft.
Das wird die Zahl derjenigen, die kommen, nicht notwendigerweise verringern. Selten waren es mehr als 200.000. Es ist auch nicht unbedingt mitleidsloser als zuvor, sondern eine Art, der Willkür der Welt mit einer neuen Form willkürlicher Migrationspolitik zu begegnen. Zu einer ehrlichen Analyse gehört, zuzugeben, dass nicht wirklich absehbar ist, welche Folgen diese Veränderung haben wird.
Aber auch, festzustellen: Es ist eine Veränderung, die bleiben wird.