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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Cem Özdemir tritt an Er traut sich
Cem Özdemir will Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Schafft er das, indem er Winfried Kretschmann kopiert?
Es zeichnete sich seit mindestens einem Jahr ab, jetzt ist es offiziell: Cem Özdemir macht's. Er kandidiert als Ministerpräsident von Baden-Württemberg und will Winfried Kretschmann beerben. Der wird nach 15 Jahren im Amt im Frühjahr 2026 in Rente gehen, mit dann 77 Jahren. Özdemir soll die Erfolgsgeschichte der Grünen im Südwesten weiterschreiben und den einzigen Chefposten in einer Landesregierung verteidigen.
Schon Ende vergangenen Jahres war klar: Özdemir wird es, wenn er sich traut. Er war der mit Abstand bekannteste Nachfolgekandidat. Und der, dem die Partei zutraute, das zu schaffen, was auch Kretschmann gelungen ist: Wähler zu erreichen, die im traditionell schwarzen Baden-Württemberg mit den Grünen normalerweise wenig anfangen können.
Die Frage war nur: Traut sich Özdemir auch? Denn die Ausgangslage ist denkbar schlecht. In den Umfragen sind die Grünen seit Monaten weit weg von ihren 30-Prozent-Wahlergebnissen. Zuletzt sahen die Meinungsforschungsinstitute die Grünen im Ländle nur noch bei 18 Prozent – deutlich hinter einer CDU mit mehr als 30 Prozent.
Kann Cem Özdemir das grüne Wunder also schaffen? Und wenn ja – wie?
"Schwierig, aber nicht aussichtslos"?
Die Grünen machen keinen Hehl daraus, dass es nicht einfach wird. Kretschmann selbst sagte kürzlich, die Lage der Partei sei "schwierig, aber nicht aussichtslos". Besonders Grüne von Kretschmanns und Özdemirs Realo-Flügel haben für die Misere stets einen willkommenen Schuldigen zur Hand: die Bundespolitik.
Die Antistimmung beträfe weniger seine Politik im Land als die der Ampel, sagte Kretschmann. Nicht ganz uneigennützig natürlich. Dass der Bund einen großen Anteil am Niedergang hat, bestreiten auch führende linke Grüne im Bund nicht. Dass die Ampel an allem schuld ist, glauben aber auch längst nicht alle. Es gibt einige, die bei Kretschmann Ermüdungserscheinungen feststellen. Eine inzwischen etwas zu ruhige Hand beim Regieren.
Das mit der Müdigkeit dürfte bei Özdemir mit seinen 58 Jahren kein Problem sein. Trotzdem stellt sich für ihn und seine Partei eine durchaus komplizierte Frage: Wie viel Kretschmann sollte Özdemir kopieren? Was funktioniert heute noch – und was nicht mehr?
Cem, der Bildungsaufsteiger?
Bodenständig, pragmatisch, liberal – selbst linke Grüne sagen, dass ein solcher Kurs auch für Cem Özdemir in Baden-Württemberg der richtige sei. Dem Oberrealo dürfte das nicht schwerfallen. Und er hat das in den vergangenen Wochen schon anklingen lassen, unter anderem mit seinem Gastbeitrag zur Migrationspolitik. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
Doch viele Grüne warnen Özdemir davor, es bei einer Kretschmann-Kopie zu belassen. Jetzt auch Hannah-Arendt-Zitate auswendig zu lernen wie Kretschmann, sei vielleicht nicht das Richtige, ist die humorvolle Art dieser Kritik.
Die ernsthaftere Version der Kritik lautet: Özdemir müsse jetzt seine eigene Erzählung nach vorn stellen. Also die Geschichte des kleinen Cem, in Bad Urach am Fuß der schwäbischen Alb als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren, der es durch Bildung ganz nach oben geschafft hat: an die Spitze der Grünen, an die Spitze des Landwirtschaftsministeriums – und jetzt vielleicht an die Spitze seines Heimatlandes.
Damit ist auch eine strategische Richtungsentscheidung verbunden. Besonders linke Grüne betonen, dass die Partei in Baden-Württemberg auf diese Weise nicht nur Stimmen von der CDU, sondern auch von der SPD gewinnen könnte. Erfolg durch Bildung, sozialdemokratischer geht es tatsächlich kaum.
Ein bisschen mutiger
Wenn es um die Inhalte geht, sehen auch Grüne nach der langen Ära Kretschmann Raum für Neues – und Defizite. Dass das Geschäftsmodell Baden-Württemberg heute nicht mehr so funktionieren kann wie vor zehn Jahren, mit dem Daimler und den Zulieferern, die Teile für die Verbrenner liefern – darauf müsse man sich stärker einstellen, heißt es. Ein bisschen mutiger in der Neuaufstellung sein.
Wer die Grünen gerade nach ihren schlechten Umfragewerten für die Partei fragt, der wird sofort auf die persönlichen Werte der Spitzenkandidaten hingewiesen. Cem Özdemir sei deutlich bekannter als sein CDU-Konkurrent Manuel Hagel. Und bei Landtagswahlen komme es eben noch stärker als im Bund auf die richtige Person an. Also auf den Cem.
Nur reicht das, um die Stimmung zu drehen?
- Eigene Gespräche und Recherchen