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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Personenschützer kandidiert für die Grünen "Das ist eine Bedrohung für die Demokratie"
Am Sonntag jährt sich das Attentat auf Walter Lübcke zum fünften Mal. Der Europawahlkampf 2024 steht im Zeichen politischer Gewalt. Zwei Politiker erzählen.
Istha, Wolfshagen, Hessen: Am 1. Juni 2019 schoss ein Rechtsextremist dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke spätabends in den Kopf. Am frühen Morgen des 2. Juni wurde Lübcke, der deutschlandweit für sein politisches Engagement für Geflüchtete bekannt war, für tot erklärt.
Striesen, Dresden, Sachsen: Fast fünf Jahre später verprügeln am 3. Mai 2024 vier Angreifer spätabends Matthias Ecke, den sächsischen Spitzenkandidaten der SPD zur Europawahl, beim Plakatieren. Sie brechen Ecke mehrere Knochen, er kommt schwer verletzt ins Krankenhaus. In den Folgetagen stellt sich ein 17-Jähriger, das Landeskriminalamt Sachsen findet schnell die weiteren Angreifer. Sie alle sollen 17 oder 18 Jahre alt sein, bei mehreren steht ein rechtsextremes Tatmotiv im Raum.
Das Lübcke-Gedenken fällt in eine Zeit, in der Politiker und Helfer vermehrt mit Gewalt konfrontiert sind. Der EU-Wahlkampf des Jahres 2024 steht besonders unter den Vorzeichen der Attacke auf Ecke vor einem Monat.
"Das hätten wir früher nicht gemacht"
Das wirkt sich auch auf das Sicherheitsgefühl der Wahlkämpfer aus. Nela Riehl ist eine von ihnen. Aktuell reist die EU-Spitzenkandidatin der pro-europäischen Partei Volt quer durch Deutschland: von Halle nach Köln, von Berlin nach Hamburg. Ein Termin reiht sich an den anderen, zwischendurch gibt sie im Zug Interviews.
Die 38-Jährige ist seit dem Angriff auf Ecke aufmerksamer geworden, wie sie sagt: "Ich scanne mein Umfeld, man ist in Hab-Acht-Stellung." Die 38-Jährige ist die einzige Schwarze EU-Spitzenkandidatin in Deutschland. Ihre Hautfarbe ist vor allem in den sozialen Medien für viele ein Problem: "Im Internet begegnet mir viel Hass." Auf der Straße sei sie bisher zwar bepöbelt, aber nicht angegriffen worden.
Riehl erzählt, dass sie bei Volt Maßnahme gegen mögliche Attacken ergriffen haben. In Halle beispielsweise gibt es eine WhatsApp-Gruppe – wer plakatiert, übermittelt seinen Standort. Bei Veranstaltungen mit Riehl informiert die Partei vor Ort vorsichtshalber die Polizei. "Das hätten wir früher nicht gemacht", sagt die Spitzenkandidatin. Personenschützer hat sie nicht, Riehl ist erst seit wenigen Wochen wirklich in der Politik. Eigentlich ist sie Lehrerin und Mutter.
Nela Riehl will sich trotz des unsicheren Gefühls nicht vom Wahlkampf abbringen lassen. "Gerade Frauen, Mütter und Schwarze Personen finden es spannend, dass ich antrete. Ich will Mutmacherin sein, ich will mit dabei sein." Für Riehl ist der Austausch wichtig, auch mit AfD-Wählern.
Ungewöhnliche Wahlkampftermine
Einer, der sich mit Sicherheitsbelangen auskennt, ist Jan-Denis Wulff. Er kandidiert für die Grünen bei der Europawahl auf Listenplatz 18. Vor seinem Schritt in die Politik arbeitete Wulff zunächst als Polizeikommissar in Nordrhein-Westfalen, später als Personenschützer beim BKA, Dienstrang Kriminalkommissar. "Ich bin seit acht Jahren bei der Polizei, bin im Ruhrgebiet Streife gefahren. Da erlebt man einiges."
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Seine Perspektive auf die Gefahrenlage sei deshalb unter Umständen eine andere, so Wulff. "Ich fühle mich nicht bedroht, weil ich mich wehren kann. Das ist selten im Wahlkampf." Und doch: "Ob ein Polizist wie ich sich sicher fühlt, ist nicht der Maßstab. Wir sind eine vielfältige Partei, junge Mütter sind bei uns genauso aktiv wie Rentner – meistens ehrenamtlich. Wenn diese Leute sich im Wahlkampf nicht mehr sicher fühlen können, ist das eine Bedrohung für unsere Demokratie."
Deswegen ergreift der 31-Jährige selbst Maßnahmen, um die Sicherheit im Wahlkampf zu verbessern. In einigen Kreisverbänden hält der Personenschützer keine politischen Reden, sondern Vorträge über persönliche Sicherheit im Wahlkampf. Dort gibt er dann Tipps wie: Seid in Gruppen unterwegs. Teilt euch nicht zu sehr auf. Achtet beim Plakatieren darauf, dass jemand die Leiter bewacht. Plakatiert nicht im Dunkeln. "Das braucht es im Moment", erklärt er.
"Wir haben starke Gesetze"
Bedrohungen im Wahlkampf seien Alltag im Jahr 2024, "nicht nur bei uns Grünen". Bei einigen führe das zu einer "Jetzt erst recht"-Haltung, andere ziehen sich aus der Politik zurück. "Es ist ein Anerkennen der Realität, wenn ich sage: Es gibt Momente, in denen man nicht überall demokratischen Wahlkampf machen kann. Das geht nicht mehr."
Doch wie kann die Gesellschaft der aggressiven Stimmung begegnen? Volt-Spitzenkandidatin Riehl sieht einen Grund für die Verrohung in der Diskussionskultur online. Wulff beklagt eine Atmosphäre, in der sich "Extremisten angekommen fühlen in der Mitte der Gesellschaft. Deshalb trauen sie sich."
Höhere Strafen oder schärfere Gesetze sieht der Kriminalkommissar nicht als Lösung. "Wir haben starke Gesetze, aber wir müssen sie durchsetzen. Die Politik ist im Wahlkampf immer schnell dabei, Freiheit gegen Sicherheit tauschen zu wollen, aber spart gleichzeitig extrem bei den Sicherheitsbehörden." Mehr Überwachung lehnt Wulff ab. "Der Widerstand muss kommen, aber nicht nur aus den Sicherheitsbehörden, sondern genauso aus der Gesellschaft. Es muss wieder verpönt sein, Gewalt als legitimes Mittel im Wahlkampf einzusetzen."
- Interview mit Nela Riehl
- Interview mit Jan-Denis Wulff