Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Pflege neben Erwerbsarbeit Eine Herkulesaufgabe
Millionen Menschen sorgen neben ihrer Erwerbsarbeit für pflegebedürftige Personen. Sie verdienen Anerkennung, Zeit – und Geld, schreibt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) im Gastbeitrag.
Wir alle wünschen uns die beste Fürsorge und Betreuung für pflegebedürftige Menschen, die uns nahestehen. Auch für uns selbst, wenn wir diese Hilfe einmal brauchen sollten. Dieser Wunsch eint die Generationen – und stellt uns zugleich vor große Herausforderungen.
Denn: Es fehlen nicht nur Fachkräfte in Pflegeheimen und der ambulanten Pflege. Es fehlen auch Plätze in der stationären Versorgung – und ambulante Pflegedienste decken längst nicht alle Regionen der Republik ab. Das gesamte Pflegesystem und Millionen Menschen ächzen unter den steigenden Kosten. Und laut Prognosen wird die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen, auf 7,6 Millionen im Jahr 2055.
Der Großteil wird zu Hause gepflegt
Was viele nicht wissen: Heute werden mehr als vier Millionen der insgesamt etwa fünf Millionen Pflegebedürftigen zu Hause unterstützt und gepflegt – in vertrauter Umgebung von vertrauten Menschen. Und das ist grundsätzlich etwas sehr Schönes! Denn die meisten Menschen haben den sehnlichsten Wunsch, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben.
Die Autorin
Lisa Paus (55) ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Seit 1995 ist Paus, die im nordrhein-westfälischen Rheine geboren ist, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2009 sitzt sie für die Partei im Bundestag. Bevor sie im April 2022 Ministerin wurde, hat sie sich als Finanzpolitikerin einen Namen gemacht.
Gleichzeitig kümmern sich die meisten Menschen gerne um besonders nahestehende Personen: Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland übernehmen Pflege zu Hause – Angehörige, Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn. Von ihnen sind vier Millionen berufstätig.
Viele meistern tagtäglich den Spagat zwischen Beruf und Pflege. Berufstätige Töchter und Söhne kümmern sich sowohl um die eigenen Kinder als auch um pflegebedürftige Angehörige. Ehepartnerinnen und -partner übernehmen Sorgearbeit. All diese Erwerbstätigen pflegen "informell" – heißt: Sie pflegen nicht hauptberuflich und erhalten bis heute keine ausreichende finanzielle Unterstützung. Selbst wenn sie für die Pflege ihre Arbeitszeit im Job reduzieren, werden ihre Einkommenseinbußen nicht kompensiert. Ich finde: Wir müssen diesen finanziellen Nachteil beenden. Wer Pflegeverantwortung übernimmt, darf nicht in die Armutsfalle rutschen.
Über die Grenzen des Verkraftbaren hinaus
Wir müssen uns vor Augen führen: Für pflegende Beschäftigte sind allein die körperlichen und psychischen Belastungen der Pflege hoch. Oft genug gehen sie über die Grenzen des Verkraftbaren hinaus. Zum Teil übernehmen Pflegende neben ihrem eigentlichen Job die körpernahe Pflege, putzen und waschen die Wäsche, kochen oder helfen beim Essen. Manchmal unterstützt ein ambulanter Pflegedienst – doch häufig stemmen sie alles allein.
Viele organisieren zugleich Termine mit Ärztinnen und Ärzten, telefonieren mit Kranken- und Pflegekassen. Sie hören zu und spenden den Pflegebedürftigen Zeit, Verständnis und Trost. Sie wollen ihren Liebsten etwas zurückgeben. Dieses "Füreinander-da-Sein" ist Teil des emotionalen Kitts, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
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Aktuell pflegen etwa zehn Prozent aller Berufstätigen Nahestehende in häuslicher Umgebung. Fast jeder Betrieb beschäftigt Mitarbeitende in Pflegeverantwortung. Und künftig werden es noch weit mehr sein. Und das wird Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber unweigerlich vor große Herausforderungen stellen, diese Fachkräfte im Spagat zwischen Job und Pflege im Unternehmen zu halten.
Mehr Zeit und Flexibilität
In der Fachwelt besteht völlige Einigkeit darüber, dass pflegende Beschäftigte mehr Zeit und mehr Flexibilität brauchen, um trotz Pflege im Beruf bleiben zu können. Mehr Zeit und Flexibilität, damit sie sich auf nicht planbare Pflegeverläufe einstellen und die Pflege mit mehreren Personen teilen können.
Niemand soll wegen der Pflege ganz aus dem Job aussteigen – das müssen und wollen wir in Deutschland erreichen. Wir brauchen endlich praxistaugliche gesetzliche Regeln für Betriebe, auch um dem branchenübergreifenden Fachkräftemangel zu trotzen. Daran arbeiten wir in der Bundesregierung mit Hochdruck. Auch aus Gründen der Gleichstellung – denn noch immer sind es hauptsächlich Frauen, die informell pflegen. Erst recht, weil nicht der Stammbaum allein darüber entscheidet, wer uns wirklich nahesteht, sollen Pflegebedürftige und Pflegende selbst entscheiden, wer häuslich pflegt.
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich sorgt – die sich um ihre Pflegebedürftigen kümmern will. Eine Gesellschaft, die Tag für Tag den Zusammenhalt lebt, über Generationengrenzen hinweg. Mit jedem stützenden Arm, jeder zubereiteten Mahlzeit, jedem lieben Wort.
Viele informell Pflegende erleben das als bereichernd und schön. Nur dürfen wir sie mit dieser Herkulesaufgabe, die die Pflege einer geliebten Person eben auch ist, nicht allein lassen! Sie brauchen uns und unsere Unterstützung. Dazu gehört, dass wir unnötige bürokratische Hürden abbauen.
Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist keine Privatsache. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daran arbeite ich und für diese setze ich mich mit vollem Herzen und all meiner Kraft ein.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- Gastbeitrag von Familienministerin Lisa Paus (Grüne)