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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ampel-Showdown Nur eine Frage der Zeit
Nach wochenlangen Verhandlungen einigen sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner auf eine Lösung für den Haushalt 2024. Rekonstruktion eines Krisenmarathons.
Olaf Scholz lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. Er greift nach seinen Sprechzetteln, sammelt sich kurz. Neben ihm stehen sein Vizekanzler Robert Habeck und der Finanzminister Christian Lindner. Sie wirken müde, man sieht ihnen an, dass sie die ganze Nacht verhandelt haben.
Dann reißt der Kanzler die Augen auf, zieht die Stirn hoch und sagt: "Die Regierung hält an ihren Zielen fest."
Gemeint seien damit die Klimatransformation, die Sozialleistungen und die Unterstützung für die Ukraine. Klingt erst einmal nach kaum bis keinen Abstrichen – und das, obwohl das Bundesverfassungsgericht ein Loch von 17 Milliarden Euro in den Haushalt für 2024 gerissen hat. Immerhin sagt Scholz noch, klar sei auch: "Wir müssen mit deutlich weniger Geld auskommen, um diese Ziele zu erreichen."
Aber, ganz wichtig: Die Ampel werde die Schuldenbremse einhalten. Nur für die von der Flutkatastrophe im Ahrtal im Jahr 2021 betroffenen Menschen soll eine Ausnahme gemacht werden. Achja und: Die Ampel behalte sich vor, bei einer Verschlechterung der militärischen oder finanziellen Lage der Ukraine im Krieg gegen Russland notfalls nachträglich die Schuldenregeln auszusetzen.
Scholz verzieht keine Miene, macht kaum Pausen. Was er sagen will, rattert er runter. Jetzt bloß nicht vom Manuskript abweichen. Ende gut, alles gut – das ist die Botschaft. Nach außen, aber auch in die Koalition.
Einigung in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch
Wochenlang haben die Ampelspitzen miteinander verhandelt. Nachdem das Verfassungsgericht die Haushaltspläne der Regierung für rechtswidrig erklärt hatte, mussten SPD, Grüne und FDP zunächst eine schnelle Lösung für den Haushalt 2023 finden und anschließend ausbaldowern, wie es mit dem Etat für 2024 weitergeht. Immer wieder traf sich das Führungstrio Scholz, Habeck, Lindner im Kanzleramt. Immer wieder hieß es nach den Treffen: dauert noch.
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurde man sich schließlich doch einig. Das ungeschönte Ergebnis: Die Ampel muss deutlich sparen, zum Beispiel bei Klimasubventionen und beim Sozialetat. Außerdem sollen die Einnahmen mithilfe des CO₂-Preises erhöht werden. Beim Tanken und Heizen mit fossilen Energien soll er 2024 wieder auf das von der Vorgängerregierung geplante Niveau von 45 Euro pro Tonne steigen.
Und die Schuldenbremse? Könnte doch noch ausgesetzt werden – eigentlich wollte die FDP das verhindern. Die Option, die sich die Ampel offenlässt: Für den Fall, dass sich die Lage in der Ukraine verschlechtert, will die Regierung sich vorbehalten, noch einmal während des laufenden Jahres die Ausnahme-Regel zu ziehen. Für die rund 2,7 Milliarden Euro, die noch im Fluthilfe-Fonds für die Ahrtal-Opfer stecken, will die Regierung schon jetzt "prüfen", ob sich diese über eine weitere Ausnahme ins neue Jahr übertragen ließen.
Es ist ein lange ausgetüftelter Kompromiss. Die Frage, wer da eigentlich zurücksteckt, wird erst bei genauerem Hinsehen deutlich. Der entscheidende Knackpunkt bis zuletzt: zusätzliche Schulden und Mehreinnahmen, sprich: Steuererhöhungen. Grüne und SPD plädierten über Wochen für beides. Die FDP hielt dagegen, verlangte stattdessen einen drastischen Sparkurs.
"So läuft das bei uns nicht"
Noch am Dienstag betrieben die Koalitionsspitzen in ihren Fraktionen Erwartungsmanagement. Bei den Liberalen dämpfte Finanzminister Lindner den Optimismus, dass es schon bald eine Einigung gebe. Auch bei SPD und Grünen gab es keine Anzeichen dafür, dass man sich zeitnah einigen könnte.
"Olaf hat das erzählt, was er seit vier Wochen erzählt", berichtete ein SPD-Abgeordneter t-online aus der Fraktionssitzung. Der Sozialstaat müsse halten, die Ukraine-Hilfe fortgesetzt werden und der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft vorangehen. Dass man kurz vor einem Kompromiss stehe? Sei am Dienstag nicht klar gewesen.
Gegen 16 Uhr verschwand Scholz zurück ins Kanzleramt. Die Verhandlungen mit Habeck und Lindner gingen weiter. Während Habeck die ganze Nacht lang eine Standleitung zu seiner Partei- und Fraktionsspitze hielt und mögliche Entscheidungen immer wieder rückkoppelte, verfügten Scholz und Lindner über eine Art Blankoscheck. Zwar schickten auch sie hin und wieder eine SMS an engste Parteikollegen. Allerdings nur, um sie auf dem Laufenden zu halten.
Am Mittwochmorgen dann der Durchbruch. Um 5.15 Uhr simst der Vizekanzler nach t-online-Informationen an seine Fraktion: "Die Verhandlungen sind jetzt fertig." Und: "Habt noch ein bisschen Geduld, bis die Details veröffentlicht werden."
In der SPD herrscht zu dem Zeitpunkt noch weitgehend Ahnungslosigkeit. Nur die Parteivorsitzenden und Fraktionschef Rolf Mützenich wissen Bescheid. Auch in der FDP kennt bis auf den engen Zirkel um Lindner niemand den Stand. Bis um 7.24 Uhr die Nachrichtenagenturen eine Einigung vermelden.
Dass die Kanzlerpartei erst über die Medien von der Einigung ihres Kanzlers erfuhr, ärgert einige Genossen. Vor allem, weil es der Grüne Habeck derweil für nötig hielt, seine Leute selbst zu informieren. "So läuft das bei uns nicht. Wir erfahren das aus den Medien", beschwert sich ein SPD-Politiker im Gespräch mit t-online.
Ein schmerzhafter Kompromiss – für alle
Am Ende steht ein Kompromiss im klassischen Sinne: Jede Partei muss etwas opfern – und kann zugleich zuvor gezogene rote Linien einhalten.
Die SPD konnte sich vor allem in sozialen Fragen durchsetzen: Kernvorhaben wie die Erhöhung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2024 blieben unangetastet. Auch in anderen Bereichen konnten die Sozialdemokraten Sozialkürzungen verhindern. Scholz hatte zuvor versprochen, es werde "keinen Abbau des Sozialstaates geben".
Doch die Kanzlerpartei musste auch Abstriche machen: Beim Bürgergeld werden die staatlichen Zuschüsse zu Weiterbildungen nach t-online-Informationen um 250 Millionen Euro gekappt. Auch sollen die Sanktionen bei abgelehnten Jobangeboten verschärft werden. Zudem wird der höhere CO₂-Preis beim Tanken und Heizen vor allem die unteren Einkommensgruppen treffen. Auch Bürgergeld-Bezieher sind über den Strompreis, der im Gegensatz zu den Heizkosten nicht vom Jobcenter bezahlt wird, direkt davon betroffen.
Keine neuen Schulden in großem Stil
Über ihren Schatten springen mussten auch die Grünen. In Habecks Klima- und Transformationsfonds (KTF) werden 45 Milliarden Euro bis 2027 gestrichen, die Umweltprämie für E-Autos läuft früher aus und auch die Förderungen für Solarfirmen werden gekürzt. "Das tut mir weh", sagte Habeck in Bezug auf die zwei Maßnahmen.
Andererseits konnten die Grünen auch einiges durchsetzen: So soll der KTF "das zentrale Instrument des klimafreundlichen Umbaus" bleiben. Er verfügt – trotz Kürzungen – noch über 160 Milliarden Euro. Ausgaben für die dringende Modernisierung der Bahn sollen nicht eingespart, sondern "umgeschichtet" werden und auch der höhere CO₂-Preis wird seit Langem von den Grünen gefordert.
Die FDP muss derweil mit dem Vorwurf leben, dass sie entgegen früherer Behauptungen sehr wohl Steuern erhöht – nämlich, indem die Ampel jetzt sogar zwei neue einführt: eine auf Plastik und eine auf Kerosin für innerdeutsche Flüge. Allerdings gelang es den Liberalen, dem gänzlichen Öffnen der Schuldenbremse, wie es SPD und Grüne wollten, Einhalt zu gebieten. Neue Schulden in großem Stil gibt es, Stand jetzt, erst einmal nicht. Das dürfte Lindner nicht zuletzt beim anstehenden Mitgliedervotum über den Verbleib in der Ampel helfen.
Klassischer Ampel-Deal
Erst im Laufe des Jahres und dann auch nicht zwingend könnte es passieren, dass die Liberalen doch noch die für sie bittere Schuldenbremsen-Pille schlucken müssen. Dann nämlich, wenn die Ukraine im Sommer bei der geplanten Geberkonferenz in Berlin deutlich mehr Geld brauchen wird, das sich nur über neue Schulden mobilisieren ließe.
Ein klassischer Ampel-Hintertür-Kompromiss also und zugleich ein typischer Scholz: Der Kanzler verzichtet auf den kurzfristigen Sieg, um am Ende wohl doch zu bekommen, was er die ganze Zeit wollte. In diesem Fall: die Option auf mehr Schulden. Nur eben etwas später als geplant.
- Eigene Recherche