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Revolte in der FDP: "Das ist ein versuchter Selbstmord"


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Revolte in der FDP
"Das ist ein versuchter Selbstmord"


Aktualisiert am 10.12.2023Lesedauer: 5 Min.
Und wie geht es jetzt weiter? FDP-Chef Christian Lindner.Vergrößern des Bildes
Wie geht es jetzt weiter? FDP-Chef Christian Lindner in Berlin. (Quelle: Christian Spicker via www.imago-images.de)

In der FDP läuft ein Mitgliederentscheid über den Verbleib in der Koalition, die Stimmung in der Partei kippt: Verlassen die Liberalen bald die Regierung?

Bis zum 17. Oktober dieses Jahres führte Matthias Nölke ein ruhiges Leben in Kassel. Er saß früher mal für die FDP im Bundestag, 2020 war das, doch dann wurde er abgewählt. Seitdem ist er Kommunalpolitiker in seiner Heimatstadt. Er kümmert sich um Wirtschaftsanträge als Stadtkämmerer, um die Finanzierung von Parkhäusern, solche Sachen. Der Politik in Berlin und der FDP in der Regierung sah er nur noch von fern zu. Doch in Nölke brodelte es.

Und dann, am 17. Oktober veröffentlichte der 43-Jährige einen offenen Brief: "Weckruf Freiheit". Die Kernforderung: Die FDP-Mitglieder sollen über einen Verbleib in der Ampelkoalition abstimmen. Wer Nölke nun anruft in diesen Tagen im Dezember, hat einen geladenen Mann am Telefon. Er schleudert die Sätze nur so heraus: "Wir verhelfen einer Politik zur Mehrheit, für die wir nicht gewählt wurden. Sei es bei der Energiepolitik, bei der Migration oder der Wirtschaftspolitik. Von Anfang an fehlte auch der große Wurf in Sachen Steuerentlastungen." Er setzt nach: "Stattdessen fährt das Land vor die Wand und wir tragen diesen Kurs mit."

David gegen Goliath?

Am Anfang wurde sein Antrag noch belächelt, doch schnell bekam er die erforderlichen 500 Unterstützer zusammen, um ein Votum in der gesamten FDP durchzuführen. Am Donnerstag überreichte Nölke die Unterschriften in Berlin. Kamerateams hielten fest, wie er mit den Aktenordnern an der FDP-Zentrale ankommt.

Nun ist es unausweichlich: Der Mitgliederentscheid kommt. Und Nölke bekommt Gegenwind. Die Parteiführung mobilisiert gegen ihn, niemand von den FDP-Oberen will die Koalition verlassen – und auch nicht darüber abstimmen. Matthias Nölke legt sich bei seinem Antrag mit der gesamten Chefetage um Christian Lindner an.

Es könnte eine Geschichte wie David gegen Goliath sein, über den kleinen Herrn Nölke in Kassel gegen den großen Herrn Lindner in Berlin. Doch es geht nicht nur um Nölke und Lindner. Hinter dem Antrag steht die Frage, wer die FDP eigentlich sein will. Wenn man in diesen Wochen mit Liberalen spricht, zeichnet sich das Bild einer erschütterten Partei ab, die mitten in der Legislaturperiode plötzlich in einer Orientierungsphase steckt. Es geht um den Beitrag der Liberalen zur Regierung, um Strukturen, und um die Frage, wer in der FDP eigentlich noch das Sagen hat.

Wenn man Nölke fragt, womit sein Missmut begann, sagt er: "Ich prophezeite, dass wir nach einem Jahr Regierung aus dem ersten Landtag fliegen – und genau so kam es dann in Niedersachsen bei der Landtagswahl." Die Landtagswahlen sind das Kernproblem der Liberalen. Es ging los mit Niedersachsen. Es folgte das Saarland. 4,8 Prozent, die FDP war wieder nicht im Parlament. Schleswig-Holstein mit 6,1 Prozent, ein großes Minus. Nordrhein-Westfalen: 5,5 Prozent, die Liberalen verlieren die Beteiligung an der Regierung. In Hessen knapp 5,0 Prozent. In Bayern, mit 4,7 Prozent, fliegt die Partei aus dem Landtag.

Die Spirale dreht sich in den Bundesländern nach unten, seit zwei Jahren. Auf Bundesebene schwanken die Zustimmungswerte, aktuell liegt die Partei zwischen fünf und sechs Prozent.

"Die FDP muss den Menschen eine Perspektive geben für das, was kommt"

Woran liegt das? Ein ranghoher Liberaler sagt: "In den vielen Koalitionsausschüssen der Ampel können wir uns oft durchsetzen, aber der Wähler dankt uns das nicht." Mancher findet, die Partei trage trotzdem zu oft grüne Politik mit.

Matthias Nölke glaubt, die Liberalen würden sich verzetteln. "Wenn ein Mittelständler nicht weiß, ob sein Betrieb nächstes Jahr noch existiert, dann ist dem herzlich egal, ob ein 16-Jähriger in Deutschland schon wählen, einen Joint rauchen und das Geschlecht wechseln darf. Dass man künftig sein Geschlecht frei wählen darf, aber nicht, welche Heizung man im Keller haben darf, ist den Menschen nicht vermittelbar."

Ein Anruf bei Gerhart Baum. Der frühere FDP-Innenminister ist mittlerweile 91 Jahre alt, er hat viele Krisen seiner Partei gesehen. Manchmal schimpfen sie in der FDP über seine Auftritte in Talkshows, weil er viel in der Partei kritisiert. Doch Baum kennt die Tücken des Regierens. Und er macht sich Sorgen um seine Partei.

Baum atmet aus und sagt: "Wir müssen uns doch mal überlegen, was heute eine liberale Partei ist. Wo ist in diesem Epochenbruch eine liberale Perspektive?" Baum macht eine Pause. Dann sagt er: "Die FDP ist in Wahrheit eine Partei in der Tradition deutscher Freiheitsbewegungen – nicht nur eine Wirtschafts- und Finanzpartei. Sie muss den Menschen eine Perspektive öffnen für das, was unausweichlich kommt. Die Zukunft muss neu gedacht werden" Manche sehen es ähnlich wie Baum, ihnen fehle klare Auftritte der Parteiführung.

Gerhart Baum glaubt, dass die FDP nicht deutlich mache, wer eigentlich ihre Zielgruppe sei: "Die neue aufgeklärte Mittelschicht, neben dem traditionellen Mittelstand? Das wäre wünschenswert. Aber es ist gar nicht klar, wen die FDP anspricht, wir sind uneindeutig – und das irritiert die Wähler."

Baum will keine Debatte über das Führungspersonal starten: Er hält eine Kurskorrektur für notwendig. Die könne auch von Parteichef Christian Lindner durchgeführt werden, selbst wenn seine Rolle in der aktuellen Situation der Partei nicht ganz einfach sei. Dass die FDP in der Regierung ist, liegt an ihm. Und die Umfragewerte auch.

Doch Lindner hat die Partei wieder großgemacht, sie zurück in den Bundestag geführt, das Trauma der außerparlamentarischen Opposition beendet. In der FDP wirkt das wie ein schützendes Elixier, das ihn unangreifbar macht. Ein Liberaler drückt es so aus: "Jeder, der Lindner versucht zu stürzen, müsste sicher sein, dass es mit dem neuen Chef nicht plötzlich bergab geht." Es ist eine Hypothek auf die eigene Leistung.

Plötzliche Beförderungen im Finanz- und Justizministerium

Und Lindner liegt es fern, die Regierung zu verlassen. Er wollte unbedingt Finanzminister werden, hatte das bereits im Bundestagswahlkampf so vorbereitet, dass am Ende Kanzler Scholz nicht an seinem Wunsch vorbeikam. Lindner will weiter regieren. In seinem Umfeld ist man überzeugt: Die Liberalen lagen ein Jahr vor der Bundestagswahl auch bei etwa fünf Prozent, am Ende wurden es 12 Prozent – Umfragen seien eben keine Wahlen und gewisse Schwankungen in den Ländern müsse man hinnehmen. Im Lindner-Lager ist man zuversichtlich, dass sich alles einrenkt.

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Nicht dazu passt jedoch eine Beförderungswelle in seinem eigenen Ministerium und in dem von FDP-Justizminister Marco Buschmann. In beiden Häusern sollen insgesamt 59 Personen auf eine Referatsleiterstelle gehoben werden, wie "Table Media" kürzlich berichtete. Bau-, Umwelt- und Familienministerium haben jeweils nur eine Beförderung angemeldet, das Wirtschaftsministerium fünf. Versuchen die FDP-Minister wichtige Leute auf gute Posten zu bringen, weil die Partei ohnehin bald die Regierung verlässt? Die Beförderungen seien Teil der "regulären Personalentwicklung für Führungskräfte" im Finanzministerium, sagte ein Sprecher "Table Media". Die Skeptiker in der FDP werden durch die Beförderungen trotzdem misstrauisch.

Im Genscher-Haus, der FDP-Zentrale, sind sie in diesen Wochen mit der Vorbereitung der Abstimmung beschäftigt. Rechtlich hat das Votum keine bindende Wirkung, ignorieren wird es die Parteiführung aber nicht können. Und wie es ausgeht, ist noch völlig offen. In der Partei werden Erinnerungen wach: 2011 gab es schon einmal eine Abstimmung, damals unter Parteichef Philipp Rösler über die Frage, ob die Partei weiterhin für den Euro sei. Rösler gewann, aber nur knapp – und zwei Jahre später wurde die FDP aus dem Bundestag gewählt. Wiederholt sich die Geschichte?

Gerhart Baum sagt: "Ich halte den Mitgliederentscheid für eine Flucht vor der Verantwortung. Es ist ein versuchter Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Ich werde alles tun, um seinen Erfolg zu verhindern." Matthias Nölke, der Initiator aus Kassel, dagegen sagt: "Der Mitgliederentscheid ist ein legitimes Instrument, welches die Satzung vorsieht. Von vielen, die sonst immer gerne von der FDP als Mitmach-Partei schwärmen, wird er jedoch als Majestätsbeleidigung empfunden." Der interne Kampf der FDP, er hat gerade erst begonnen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Telefonate mit Matthias Nölke und Gerhart Baum
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