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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Söder und die Affäre Aiwanger Das ist nicht Fairness, sondern Kalkül
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hält an seinem stellvertretenden Regierungschef Hubert Aiwanger fest. Das hat weniger mit Fairness und mehr mit Kalkül zu tun.
Markus Söder seufzt einmal tief, bevor es losgeht. Er unterstreicht, wie schwer ihm diese Entscheidung fiel. Klar, es geht ja auch um schwere Vorwürfe. Kurz: Söders stellvertretendem Regierungschef Hubert Aiwanger wird vorgeworfen, in seiner Jugend ein antisemitisches Flugblatt in seiner Schultasche mit sich geführt zu haben. Jetzt tobt in der Öffentlichkeit eine Debatte darüber, ob Aiwanger als stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister noch tragbar ist. Söder findet: ja, ist er.
Der CSU-Chef beteuert zwar, Antisemitismus habe keinen Platz in Bayern. Das Flugblatt sei "ekelig", "widerwärtig" und "menschenverachtend" und die Vorwürfe müssten ernsthaft beantwortet werden. Aber Aiwanger? Ihn will Söder "fair" behandeln. Und fair heißt in diesem Fall: Der stellvertretende Regierungschef darf bleiben. Und: Die CSU hält sich offen, nach der Bayern-Wahl noch einmal mit den Freien Wählern zu koalieren.
Die Regierungskrise, von der gerade noch die Rede war, hat Söder damit abgefrühstückt.
War noch was?
Eine Entscheidung aus taktischen Gründen
Selbstverständlich hat Söders Entscheidung taktische Gründe. Zum einen muss der CSU-Chef an seine Machtoptionen nach der Landtagswahl denken. Eine absolute Mehrheit der CSU ist zu diesem Zeitpunkt höchst unwahrscheinlich. Die Grünen schließen die Christsozialen seit Monaten als möglichen Koalitionspartner aus. Nicht regierungsfähig, so die Erklärung. Bei der FDP ist kaum sicher, ob sie es erneut in den Landtag schaffen. Und wer war noch mal der Spitzenkandidat der SPD in Bayern? Genau, keine Option. Es bleiben die Freien Wähler. Und die halten nun mal an ihrem Parteivorsitzenden Aiwanger fest.
Hinzu kommt, dass Aiwanger sich seit Tagen als Opfer einer "Schmutzkampagne" inszeniert. Mit einer Entlassung wäre der Ministerpräsident wohl auch Gefahr gelaufen, dem Narrativ recht zu geben und damit Wählerinnen und Wähler in Aiwangers Arme zu treiben.
Heißt: Söders Entscheidung hat weniger mit Fairness und mehr mit Kalkül zu tun.
Ein Taktieren, wie man es im Übrigen noch von einem anderen Politiker kennt: Olaf Scholz. Der Bundeskanzler ist dafür bekannt, in Krisensituationen erst mal Ruhe zu bewahren, sich zurückzuziehen und abzuwägen, welche Konsequenzen seine Reaktion nach sich ziehen könnte. Der CSU-Chef gehört eigentlich zu jenen, die Scholz' Handeln in solchen Situationen gerne lautstark kritisieren, sein Abwägen als Führungsschwäche abtun. Doch kaum ist Söder selbst in einer solchen Situation, handelt er nach Scholz' Verzögerungstaktik. Ist der Bayer dem Kanzler plötzlich doch ähnlicher als gedacht?
Von Durchgreifen will Söder nichts wissen
Von Durchgreifen will der Ministerpräsident heute jedenfalls nichts wissen.
Söder erklärt seine Entscheidung so: Aiwangers Krisenmanagement sei zwar "nicht sehr glücklich" gelaufen. "Spät, aber nicht zu spät" habe es dann aber noch eine klare Distanzierung gegeben. Jetzt sei es wichtig, Reue und Demut zu zeigen. Denn: "Wer ernsthaft bereut, kann auch leichter auf Verzeihung hoffen."
Dabei kann von Reue nur eingeschränkt die Rede sein. Ja, Aiwanger hat sich am Donnerstag mit deutlichen Worten von dem Pamphlet distanziert und sich für sein Verhalten im Umgang mit ihm entschuldigt. Doch im gleichen Atemzug sprach er von einer "politischen Kampagne" gegen ihn und seine Partei. "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertiggemacht werden", so Aiwanger. Vorab war der Politiker sogar so weit gegangen, zu behaupten, die Shoah werde hier in seinen Augen, "zu parteipolitischen Zwecken missbraucht".
- Lesen Sie hier die 25 Fragen und Hubert Aiwangers Antworten darauf.
In einem an ihn gestellten Fragenkatalog, den Söder mit Einwilligung Aiwangers am Sonntagvormittag veröffentlichte, wird mehr als deutlich, wie wenig reflektiert der Spitzenkandidat der Freien Wähler auf die Situation und die Vorwürfe blickt. Einen Großteil der Fragen tut er mit Erinnerungslücken ab. Zum Schluss schreibt Aiwanger: "Ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden. Jedem Menschen muss auch ein Entwicklungs- und Reifeprozess zugestanden werden."
Aiwangers Antworten zeugen von keinem Reifeprozess
Ja, da hat Aiwanger recht. Jedem Menschen, der etwas bereut und glaubhaft macht, dazugelernt zu haben, dem sollte eine neue Chance gegeben werden. Nur, seine Antworten zeugen genau davon nicht: einem Reifeprozess.
Bei dem Freie-Wähler-Chef sieht der Reifeprozess so aus, dass er im Anschluss an die Pressekonferenz des bayerischen Ministerpräsidenten am Sonntagvormittag süffisant einem t-online-Reporter sagt: "Ich habe erst hier durch Journalisten Söders Entscheidung erfahren. Das bestätigt, was ich schon immer gesagt habe. Dass die Anschuldigungen Quatsch sind."
Für Markus Söder steht nach diesem Wochenende fest: "Das war eine unschöne Woche. Das hat Bayern geschadet." Tatsächlich wird auch Aiwanger beschädigt aus der Sache herausgehen. Die Opferrolle kann er nach Söders Pressestatement kaum aufrechterhalten. Was bleibt, sind die Vorwürfe. Wenn es Söder jetzt gelingt, die CSU als Stimme der Vernunft und Gegengewicht zu Aiwanger zu verkaufen, könnte er diese Krise kurz vor der Wahl so gut wie unbeschadet überstehen. Die CSU könnte sogar gestärkt daraus hervorgehen.
- Eigene Recherche
- Reuters: Livestream Pressekonferenz Söder am 3.9.23
- Bayerischer Rundfunk: Livestream Statement Hubert Aiwanger am 30.08.23