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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Strategie von Hubert Aiwanger Und plötzlich reagiert er
Hubert Aiwanger gerät in der Affäre um das Auschwitz-Flugblatt immer stärker unter Druck. Er kultivierte die Unangepasstheit in der Politik – und könnte an seiner eigenen Strategie scheitern.
Es begann mit einem Satz. In riesigen Lettern veröffentlichte ihn die "Bild"-Zeitung in ihrer Onlineausgabe. Der Satz lautete: "Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll." Hubert Aiwanger reagierte damit auf die Vorwürfe, er habe als Schüler manchmal einen Hitlergruß gezeigt.
Es ist der Moment, als etwas zu kippen beginnt am Mittwochmittag. Hubert Aiwanger verlässt seine Strategie des Aussitzens, des Abwartens. In kleinen Statements beginnt er plötzlich, nach Tagen des Schweigens, zu reagieren. Er schreibt auf der Plattform X, vormals Twitter, spricht in ein Mikrofon, das ihm am Rande eines Termins in Donauwörth hingehalten wird. Und für das erste gedruckte Statement sucht er sich die größte Boulevardzeitung des Landes aus. Der Satz bei "Bild" könnte den Moment markieren, der vielleicht im Nachhinein zum Wendepunkt wird, wonach der Skandal um Aiwanger ihm endgültig entgleitet.
Die Dynamik wird immer mächtiger
Hubert Aiwanger, 52 Jahre alt und bayerischer Vize-Ministerpräsident, steht unter Druck. Er soll ein oder mehrere Exemplare eines antisemitischen Flugblattes als Schüler in seiner Tasche herumgetragen haben. Darauf wird ein perfides Gewinnspiel ausgelobt. Hauptpreis: Ein "Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz". Auf dem Papier finden sich weitere antisemitische Bösartigkeiten. Zuerst hatte die "Süddeutsche Zeitung" darüber berichtet. Kurz darauf behauptete Aiwangers Bruder, das Pamphlet verfasst zu haben. Ob er, Hubert Aiwanger, aber das Flugblatt auch weitergegeben habe, sei ihm "nicht mehr erinnerlich", sagt er heute.
Seit Tagen köchelt die Affäre um Hubert Aiwanger und lange kommunizierte er dazu nur mit minimalen Aussagen. Nun kommen immer neue Vorwürfe gegen ihn ans Licht – und der bayerische Vizeministerpräsident hat seine Strategie geändert. Zunächst schien es, als wolle Aiwanger alles aussitzen. Dann wurde die Dynamik immer mächtiger. Auch, weil die Vorwürfe sich mehrten.
Mittlerweile scheint Aiwanger in einem Modus angekommen zu sein, in dem er offensiver auftritt, weil er glaubt, sich verteidigen zu müssen. Doch dadurch gerät er immer weiter unter Druck. Denn sein populistischer Kommunikationsstil, der bisher seinen politischen Erfolg garantierte, gerät jetzt, in der Krise, an seine Grenzen. Er könnte ihm sogar zum Verhängnis werden. Es ist die Geschichte einer politischen Erosion.
Gern drischt er verbal auf die Bundespolitik ein
Dabei wirkte es noch am Mittwochmorgen so, als würde Aiwanger einfach weitermachen wollen. So, als könne ihm die ganze Affäre nichts anhaben.
Aiwanger kommuniziert gern auf dem Kurznachrichtendienst X, der vorher Twitter hieß. Gern überzieht er hier seine Kritiker mit messerscharfer Kritik, er drischt verbal auf die Bundespolitik ein und lobt seine eigenen Vorstöße in den lautesten Tönen. Viele Politiker machen das ähnlich, doch kaum jemand kommuniziert dabei so aggressiv wie Aiwanger. Am 9. August schrieb er zur Suche nach dem Jugendwort des Jahres: "Aber Deutschland hat ja keine anderen Probleme als schräge Wortschöpfungen zu kreieren." Im Jahr 2016 kommentierte er ein Foto der CSU-Politikerin Dorothee Bär, die in einem schwarzen Kleid vor Wellen posiert: "Doro, das sieht aus, als wärst du in Italien illegal eingereist, übers Mittelmeer."
Dann waren auf einmal die Vorwürfe um das Auschwitz-Flugblatt in der Welt. Und Aiwanger wurde auf X sehr still. Er gab der Presse ein paar Sätze, in denen er sich distanzierte. Doch mit dem lautstarken Krawall auf Social Media war es für ihn vorbei. Bis zum Mittwochvormittag um 9.41 Uhr. Da schrieb Aiwanger: "Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los." Kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Entschuldigung. Stattdessen: Angriff. Der Vorwurf, gegen ihn werde eine Kampagne gefahren. Es ist eine Flucht nach vorn.
Doch die Vorwürfe werden immer größer. Ein ehemaliger Mitschüler behauptet in einer TV-Sendung, Aiwanger habe gelegentlich als Jugendlicher den Hitlergruß gezeigt und Judenwitze erzählt. Also lässt sich Aiwanger am Mittag in der "Bild"-Zeitung mit seinem Statement zum Hitlergruß zitieren, dass ihm das "nicht erinnerlich" sei. Die Flucht nach vorn hält nur drei Stunden an. Aiwanger schaltet jetzt in einen anderen Modus, er versucht nun, auf die einzelnen Enthüllungen einzugehen.
Der Versuch, nach vorn zu kommen
Über das Auschwitz-Flugblatt sagt er: "Ich bin weder Antisemit noch Extremist. Was in diesem Flugblatt steht, ist wirklich abscheulich. Ich bin aus tiefstem Herzen Demokrat und Menschenfreund." Und dann probiert er etwas, was sonst immer seine Kernkompetenz war. Aiwanger versucht, direkt zu sprechen, sich zu erklären. Er stellt sich am Nachmittag vor eine TV-Kamera der "Welt" und lässt sich interviewen.
Er sagt: "Was in Jugendzeiten hier diskutiert wird, wundert mich etwas, aber es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das ein oder andere so oder so interpretiert werden kann." Und er sei "seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte, kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund". Daraufhin bricht in den sozialen Medien ein Sturm der Entrüstung los. Der Versuch von Aiwanger, nach vorn zu kommen, wird in den Augen vieler konterkariert durch die Formulierung "seit dem Erwachsenenalter".
Nun schwebt da plötzlich die Frage: Und was war vorher? Aiwanger wird vom TV-Reporter dann noch gefragt, ob da noch etwas auftauchen könnte, was ihn belastet: "Lassen wir uns überraschen, was da jemand mir unter die Nase halten will."
Am Abend dann die nächste Enthüllung: Die "Süddeutsche" berichtet, Aiwanger habe in seiner Schultasche auch das Buch "Mein Kampf" von Adolf Hitler mit sich herumgetragen. Die Zeugin behauptet, sie habe es selbst in der Hand gehabt. Aiwanger legt also auf X los: "Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte 'Mein Kampf' in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?". Da ist es 22.14 Uhr.
Seine Strategie gerät an ihre Grenzen
Die Sätze sind der vorläufige Höhepunkt einer politischen Dynamik, die mit dem Kommentar zum Hitlergruß in der "Bild"-Zeitung ausgelöst wurde. Aiwanger versucht, sich freizukämpfen, doch der Druck auf ihn steigt kontinuierlich an. Die Frage danach, was die Formulierung "seit dem Erwachsenenalter" sollte, gärt weiter. Nun ist da nur der Kommentar, es sei "Unsinn", dass er das Hitler-Buch in der Tasche gehabt habe. Und vor allem ist es eines nicht: eine umfassende Erklärung.
Hubert Aiwanger lebte sonst davon, dass er anders auftrat als andere Politiker. Nicht nur auf X, auch in den Bierzelten Bayerns, in den Medien. Immer ein wenig lauter, immer ein wenig persönlicher als alle anderen. Und nie um einen direkten Kommentar verlegen, wenn er angegriffen wurde. Doch im Umgang mit dem Auschwitz-Pamphlet gerät diese Strategie zunehmend an ihre Grenzen. Und es wirkt, als würde auch Aiwanger jetzt umsteuern. Ein Wechsel der Strategie, schon wieder.
Am Donnerstagmittag berichtete der "Stern", Aiwanger habe einen Termin am Vormittag um 10 Uhr eine halbe Stunde vorher abgesagt. Dabei sollte ein neuer Produktionsstandort vorgestellt werden. Die Polizei vor Ort soll nichts über die Absage gewusst haben. Auch die "Bild"-Zeitung meldet verschiedene Absagen von Terminen. Nach den kleinen Statements in Zeitungen, Fernsehen und auf X folgt nun offenbar der Rückzug. Hubert Aiwanger will abwarten, zumindest vorerst.
- Eigene Recherche