Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Es droht immer häufiger Sozialhilfe Der Sparsame ist im Alter der Dumme
Trotz Pflegereform explodieren die Kosten für Heimplätze. Immer mehr Pflegebedürftigen droht die Sozialhilfe. Der Widerstand dagegen wächst – zu Recht.
Mitten im Sommerloch ist in der öffentlichen Diskussion ein vernachlässigtes Thema entfacht: Noch ist es nur ein mediales Feuer, das hoffentlich zu einem Flächenbrand wird, an dem die Politik nicht mehr vorbeikommt. Gemeint sind die schon wieder exorbitant angestiegenen sogenannten "Eigenanteile" für Pflegeheimplätze, die die Bewohner und ihre Angehörigen zahlen müssen.
Der Verband der Ersatzkassen hat errechnet, dass die Eigenanteile zum 1. Juli durchschnittlich bundesweit bei 2.548 Euro pro Monat liegen. Vor einem Jahr hatten sie noch 2.200 Euro betragen. Macht 15,8 Prozent mehr. Und das bei einer ausgezahlten Durchschnittsrente von gerade einmal 1.152 Euro.
Das ist ein Kostenirrsinn, bei dem kein Ende in Sicht ist. Denn ganz gewiss werden die Heime ihre Preise in Zeiten hoher Energiekosten und einer signifikanten Inflation weiter erhöhen, so wie sie es seit Jahren tun. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass sie in der Regel gar nicht anders können. Denn Grund dafür, dass es solche Eigenanteile überhaupt gibt, ist, dass die gesetzliche Pflegeversicherung anders als die gesetzliche Krankenversicherung keine "Vollkaskoversicherung" ist, sondern eine "Teilkaskoversicherung", die somit nicht alle Kosten übernimmt.
Die Autorin
Liane Bednarz, 49 Jahre, ist eine liberal-konservative Publizistin. Sie ist promovierte Juristin und Mitglied der CDU. Sie hat diverse Bücher veröffentlicht, darunter 2015 "Gefährliche Bürger: Die neue Rechte greift nach der Mitte" und 2018 "Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern".
Deshalb wird jede, wirklich jede Erhöhung der Gehälter von Pflegekräften prozentual auf die Bewohner beziehungsweise Angehörigen umgelegt. Die Erhöhungen der Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie der "Investitionskosten" für die Nutzung (Miete) sowie Instandhaltung des Gebäudes müssen die Bewohner sogar zu 100 Prozent stemmen. Allein die Investitionskosten liegen bereits im Schnitt bei 477 Euro.
In der Öffentlichkeit hatte das Thema bisher keine große Lobby. Schließlich betrifft es nur diejenigen, die das Pech haben, dass sie oder ihre Eltern Pflege brauchen und kein Angehöriger diese leisten kann, sodass sie in ein Heim einziehen müssen.
Doch angesichts der neuen Zahlen wollen nun offenbar auch viele aus der Pflegebranche die ständige Preisexplosion nicht länger hinnehmen – zu Recht. Denn die Durchschnittswerte spiegeln das ganze Drama ja nur abstrakt wider. Nicht selten müssen Bewohner plötzlich mehr als 500 Euro monatlich zusätzlich zahlen, teilweise sogar noch mehr. Viele kommen schon jetzt auf Beträge von über 3.000 Euro im Monat.
Lächerliches Schonvermögen von 10.000 Euro
Da sind Vermögen schnell aufgebraucht. Ist das der Fall, wird geschaut, ob es Kinder mit einem jährlichen Einkommen von über 100.000 Euro brutto gibt. Dann nämlich müssen sie für einen Teil der Kosten aufkommen, also Elternunterhalt zahlen, was logischerweise ihre Möglichkeit, für sich selbst vorzusorgen, massiv einschränken und die Lebensplanung durcheinanderwirbeln kann.
Muss das Sozialamt einspringen, bleibt Heimbewohnern ein lächerliches Schonvermögen von 10.000 Euro. Wer hingegen alles verprasst und keine Kinder mit dem genannten Einkommen hat, bekommt ab dem ersten Tag sämtliche Eigenanteile vom Sozialamt bezahlt. Der Sparsame ist also im Alter der Dumme. Den Kindern kann er nichts hinterlassen. Das ganze Ersparte, auch ein eigenes Haus, fließt ins Heim.
Rund ein Drittel der Heimbewohner ist schon heute auf Sozialhilfe angewiesen. Tendenz steigend. Das macht seelisch etwas mit den Betroffenen. Im Mai berichtete die Pflegefachkraft Silke Behrendt-Stannies in der Sendung "hart aber fair" darüber, dass das Abrutschen in die Sozialhilfe Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, "traurig" und "depressiv" mache. Auch mit ihr mache es etwas zu wissen, dass jede ihrer Lohnerhöhungen umgelegt werde.
"Gute Pflege muss bezahlt werden"
Mit so viel verbaler Empathie seitens der Heime oder von Pflegern können verzweifelte Angehörige aber leider oftmals nicht rechnen, wenn der jährliche Kostenschock eintritt. Stattdessen bekommen sie nicht selten banale Sprüche zu hören wie "gute Pflege muss bezahlt werden" oder "Sie bekommen doch eine Gegenleistung für den Verlust des elterlichen Vermögens oder des ersparten Häuschens: Pflege".
Immer mehr Branchenvertreter und andere Experten solidarisieren sich jetzt aber mit den Bewohnern. Letztere und ihre Familien sollen nicht länger derart geschröpft werden, fordern sie gerade quer durch alle Leitmedien.
- So sagte etwa Jörg Meyers-Middendorf vom Vorstand des Ersatzkassenverbands: "Wir unterstützen die Maßnahmen für eine faire Bezahlung des Pflegepersonals. Es kann aber nicht sein, dass stetig steigende Kosten zum Großteil die Pflegebedürftigen selbst schultern müssen."
- Christian Breidenbach vom Verband der Ersatzkassen NRW schlug vor, dass die Investitionskosten von den Ländern vollständig übernommen werden sollten.
- Bodo de Vries vom Kuratorium Deutsche Altershilfe forderte, an die Pflegeversicherung mit einer Grundsatzreform heranzugehen.
- Beate Linz-Eßer, Geschäftsführerin Seniorendienste Stadt Hilden wünschte sich, eine wirkliche Reform, so "dass der Eigenanteil (…) deutlich abgesenkt wird und die Pflegekasse mehr übernimmt".
Klarer geht es kaum. Besonders ärgerlich ist, dass angesichts der exorbitanten Erhöhungen die Zuschüsse für den reinen Pflegeanteil, die der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit Wirkung zum 1. Januar 2022 eingeführt hatte, schon wieder fast verpufft sind. Im ersten Jahr gibt es derzeit 5 Prozent, im zweiten 25 Prozent, im dritten 45 und danach 70 Prozent. Doch selbst Bewohner, die 70 Prozent beziehen, zahlen jetzt schon wieder im Schnitt 165 Euro mehr als vor einem Jahr.
Angesichts solcher Zustände kann man über die von Experten spöttisch als "Reförmchen" bezeichnete Pflegereform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, die der Bundestag Ende Mai durchwinkte, wirklich nur noch den Kopf schütteln. Denn eine Entlastung der Bewohner und ihrer Angehörigen sieht diese in allenfalls homöopathischen Dosen vor. Die oben genannten Zuschüsse für den Pflegeeigenanteil sollen ab Januar 2024 im ersten Jahr um 10 Prozent, danach um jeweils 5 Prozent steigen. Das spart 125 Euro im ersten Jahr und danach 62 Euro. Ein schlechter Scherz.
Inakzeptabel ist zudem, dass die Bewohner auch weiterhin zusätzlich eine "Ausbildungsumlage" von über 150 Euro zusätzlich zu den jetzt durchschnittlich 2.548 Euro zu schultern haben, obwohl diese laut "Ampel-Koalitionsvertrag" abgeschafft werden soll.
Private Pflegeversicherungen sind keine Lösung
Dieses Schröpfen muss ein Ende nehmen. Angesichts solcher Kosten kann man nicht mehr von einem allgemeinen Lebensrisiko sprechen, zumal die Alterspyramide die Zahl der Heimbewohner von derzeit fast einer Million Menschen weiter in die Höhe treiben wird. Es kann und darf nicht sein, dass alte Menschen derart im Stich gelassen werden. Private Pflegeversicherungen sind auch keine Lösung, da sie für viele unerschwinglich sind und im Rentenalter ebenfalls zur Kostenfalle werden können.
Der Gesundheitsminister muss seiner grundsätzlichen Bereitschaft, über eine Vollkaskoversicherung nachzudenken, endlich Taten folgen lassen. Für deren Finanzierung gibt es Modelle. Sei es die Einführung einer allgemeinen Bürgerversicherung, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen müssen, und in der die Beitragsbemessungsgrenze hochgeschraubt wird, damit Gutverdienende mit einem monatlichen Gehalt ab rund 5.000 Euro brutto nicht länger prozentual deutlich weniger Sozialabgaben als alle anderen zahlen. Oder seien es Zuschüsse aus dem Steueraufkommen. Für anderes (Mütterrente, Bürgergeld, Energiepreisdeckel etc.) gibt der Staat ja auch viel Geld aus. So jedenfalls geht es nicht weiter.
- Pressemitteilung des Verbands der Ersatzkassen e.V. vom 18.7.2023
- Homepage der Deutschen Rentenversicherung
- ARD-"Tagesschau" vom 18.7. 2023
- "hart aber fair" vom 24.4.2023