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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wieder Streit in der Ampel Ist das seine Bankrotterklärung?
Christian Lindner kann sich mit seinen Kabinettskollegen nicht einigen, wie viel Geld die Regierung im nächsten Jahr ausgibt. Nun schaltet sich sogar der Kanzler in die konfliktreichen Gespräche ein.
Es ist eine außergewöhnliche Runde, die in den nächsten Wochen einen der größten Konflikte in der Bundesregierung befrieden soll. Kanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner und die verschiedenen zuständigen Fachminister wollen sich jeweils zu dritt treffen. Die Minister werden wechseln, das Thema der Gespräche wird immer das gleiche sein: Die Ressortchefs wollen im nächsten Jahr zu spendabel sein, die geplanten Ausgaben müssen runter.
So berichtet es die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) unter Berufung auf Regierungskreise. Dass der frühere Finanzminister und jetzige Kanzler Scholz helfen muss, hat einen Grund: Lindner hat sich mit den einzelnen Ministern und Ministerinnen ganz offensichtlich verkantet.
Er ist überzeugt, dass der Staat zu viel Geld ausgibt, dass es nicht immer um noch mehr Geld gehen kann, sondern dass sich Politiker eben auch mal zusammenreißen müssen. Doch die zuständigen Minister wollen natürlich möglichst viele Projekte umsetzen – und die kosten eben Geld.
Selbst Wissing ist unzufrieden
Deshalb gibt es im Juni 2023 eine Situation, die außergewöhnlich ist: Die Regierung hat sich noch nicht über einen Haushaltsentwurf für das nächste Jahr verständigt. Theoretisch ist dafür noch ein gutes halbes Jahr Zeit, praktisch gibt es die allerdings nicht. Denn ohne Haushalt ist alles nichts. Eine Koalition, die sich nicht übers Geld einigen kann, kann den Rest auch gleich lassen.
Also muss jetzt der Chef ran. Nein: Der Oberchef. Denn es gab ja bereits "Chefgespräche", gemeint waren bislang aber nur die einzelnen Minister, also die Chefs und Chefinnen der jeweiligen Ressorts. Erfahrene Finanz- und Haushaltspolitiker sind sehr überrascht, dass nun Scholz persönlich die Gespräche mitführt. So ein Vorgang sei einzigartig in den letzten Jahren, heißt es. Aber die Hilfe von ganz oben scheint der einzige Ausweg zu sein.
Laut der "Süddeutschen Zeitung" sind erste Gespräche schon geführt worden. Konflikte zwischen Lindner und dem jeweiligen Minister gibt es demnach mit einem halben Dutzend Kabinettsmitgliedern. Darunter sind dem Bericht zufolge Außenministerin Annalena Baerbock und Familienministerin Lisa Paus (beide Grüne) sowie – das ist durchaus überraschend – Lindners Parteifreund Verkehrsminister Volker Wissing.
Die Ausgaben explodieren
Lindner mag bei vielen Bürgern nicht besonders populär sein, aber es lohnt sich durchaus, seine Argumentation nachzuvollziehen. 2015 gab der Bund rund 300 Milliarden Euro aus, im Jahr vor Beginn der Pandemie waren es bereits mehr als 350 Milliarden Euro, 2022 beliefen sich die Ausgaben sogar auf knapp 480 Milliarden Euro.
Nun will Lindner erreichen, dass im kommenden Jahr deutlich weniger Geld ausgegeben wird. Trotzdem werden die Ausgaben wohl bei mehr als 400 Milliarden Euro liegen – also noch immer signifikant höher als vor Corona.
Eingespart werden sollen, so wurde es vom Finanzministerium an die einzelnen Ministerien übermittelt, insgesamt fünf Milliarden Euro von allen zusammen. Ein Betrag, der angesichts der Gesamtdimension eigentlich aufzubringen sein müsste. Doch vor allem die grünen Ministerien wollen die Einsparungen offenbar nicht hinnehmen, wie t-online aus der Ampelkoalition erfuhr. Lediglich Verteidigungsminister Boris Pistorius kann mit mehr Geld rechnen.
Schafft es Lindner nicht allein?
Nun wird also ein Kompromiss gesucht. Manche in der Koalition glauben, Lindner hole sich nun freiwillig Unterstützung durch den Kanzler. Andere wiederum sehen die Durchsetzungsfähigkeit des Finanzministers bereits dermaßen beschädigt, dass er sich schlichtweg Hilfe von außen holen muss.
In der FDP geht man von der ersten Variante aus. Bei den Liberalen ist die Sache ganz klar: Die Schuldenbremse soll nächstes Jahr wieder eingehalten werden, da müssen die Ministerien eben Kürzungen hinnehmen. Egal, ob die Verhandlungen mit oder ohne Kanzler laufen. "Mir erschließt es sich nicht, warum man einen Schlichter braucht, um einen Corona-aufgeblähten Haushalt wieder in Richtung Normalität zu führen", sagt die FDP-Haushaltspolitikerin Claudia Raffelhüschen.
Völlig anders sieht man das bei den Grünen. Der Haushaltspolitiker Bruno Hönel sagt: "Ich würde es begrüßen, wenn sich der Kanzler nun einschaltet und dem Finanzminister unter die Arme greift. Ziel muss es sein, dass das Kabinett vor der Sommerpause einen Haushaltsentwurf beschließt, der den immensen Herausforderungen bei Klimaschutz, internationaler Verantwortung und gesellschaftlichem Zusammenhalt Rechnung trägt, und der Bundestag als Haushaltsgesetzgeber rechtzeitig in sorgfältige Beratungen starten kann."
Kommt es zum großen Krach?
Ein besonders großes Streitthema ist derzeit die Kindergrundsicherung, die im Koalitionsvertrag zwar vereinbart, aber nicht im Detail ausformuliert wurde. Die Grünen verstehen darunter nun, dass die Ausgaben für Kinder weiter erhöht werden. In der FDP dagegen argumentiert man, dass das Kindergeld ja bereits erhöht worden sei und man nun nur noch die Verwaltung vereinfachen müsse. Doch damit will sich die grüne Familienministerin Lisa Paus bislang nicht zufriedengeben.
Aus der Opposition kommentiert die CDU-Finanzpolitikerin Antje Tillman den Streit so: "Dass Lindner die Kindergelderhöhung selbst verkündet hat, war schlicht unklug. Es ist das eine, große Prestigeprojekt von Lisa Paus – ihr das wegnehmen und ihr dann nur noch eine Bürokratiereform übriglassen? Da würde ich mich als Familienministerin auch querstellen."
Intern rechnet mancher bereits damit, dass sogar die Haushaltsgespräche im Beisein von Scholz scheitern werden. Dann müsse man einen Koalitionsausschuss einberufen, bei dem es heißt: "Keiner steht vom Tisch auf, bis wir eine Einigung haben", so sagt es ein Haushaltspolitiker.
- Eigene Recherche
- Telefonate mit Claudia Raffelhüschen, Bruno Hönel und Antje Tillmann