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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politik in der Krise Bringt's das wirklich?
Ein Flüchtlingsgipfel soll die Probleme bei der Migration lösen. Doch die Vergangenheit zeigt: Meist ist so ein Spitzentreffen nichts anderes als politisches Theater.
Zweieinhalb Stunden nimmt sich die Politik an diesem Donnerstag Zeit. Zweieinhalb Stunden, um eines der größten Probleme für die Kommunen, aber auch für den Zusammenhalt in Deutschland zu lösen: die neue Flüchtlingskrise.
Der Krieg in der Ukraine hat die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Auch aus Ländern wie Afghanistan, dem Iran und dem Irak kommen wieder mehr Menschen nach Deutschland.
Weit mehr als eine Million Flüchtlinge hat Deutschland 2022 aufgenommen. Die Kommunen ächzen zunehmend unter der Last. Mehrere Brandbriefe erreichten den Kanzler in den vergangenen Wochen. Die Klagen von Kommunalpolitikern lassen sich so zusammenfassen: Wir haben zu wenig Unterkünfte, zu wenig Kita- und Schulplätze, zu wenig Betreuungskräfte – es mangelt an allem, es geht einfach nicht mehr.
Die Antwort aus dem Bundesinnenministerium folgte prompt: Es braucht einen Flüchtlingsgipfel, auf dem Bund, Länder und Vertreter der Kommunen Lösungen besprechen. Ein Gipfel soll es richten. Es ist inzwischen die Standardantwort der Bundesregierung auf die großen politischen Probleme. Die Liste der Gipfel reicht vom Krankenhaus- über den Wärmepumpen- bis hin zum Munitionsgipfel.
Die Zeit aber ist auf diesen Gipfeln knapp, die Teilnehmerliste oft lang. Was also können solche Zusammentreffen überhaupt leisten? Sind sie tatsächlich hilfreich – oder nur die Simulation von Politik, um von der eigenen Tatenlosigkeit abzulenken?
Bloß nicht nur "Schaufensterreden"
Einen Flüchtlingsgipfel gab es jedenfalls schon im Herbst. Auch da waren die Warnungen aus den Kommunen laut, die Kritik dieselbe wie heute. Verändert hat der Gipfel daran wenig. Reine Lippenbekenntnisse, keine tatsächliche Hilfe für die Praktiker vor Ort, lautete die Kritik von Kommunalpolitikern.
"Auf keinen Fall darf es bei einem einmaligen Treffen mit Schaufensterreden bleiben", warnt der bayerische Landrat Jens Marco Scherf im Gespräch mit t-online diesmal. Der Grünen-Politiker ist einer von denen, die einen Brandbrief an den Kanzler geschickt haben, weil er seinen Landkreis Miltenberg schon seit Langem am Limit sieht.
Aus Scherfs Sicht kann ein einmaliger Gipfel nicht helfen. Er fordert stattdessen einen "dauerhaften Austausch mit Praktikern aus allen Bereichen". Mit Blick auf die Teilnehmerliste bei diesem Flüchtlingsgipfel sieht er entscheidende Leerstellen: Es fehlten Experten aus dem Bildungsbereich und Vertreter der so wichtigen ehrenamtlichen Organisationen. "Ohne ihre Hilfe würden die Kommunen zusammenbrechen."
"Belastungsgrenze erreicht"
Kurz vor dem Zusammenbruch steht nicht nur Scherfs Kreis, sondern viele Kommunen. Die Belastungsgrenze sei jetzt erreicht, sagt Landkreistag-Präsident Reinhard Sager t-online. Er fordert nun, dass Bund und Länder die Landkreise "von den mit der Unterbringung, Versorgung und Integration verbundenen Kosten freihalten". Außerdem brauche es "eine Begrenzung der Migrationsströme", auch durch eine "Rückführungsoffensive".
Der Grünen-Europapolitiker und Migrationsexperte Erik Marquardt hält es zwar auch für sinnvoll, Druck zu machen in der EU, damit andere Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Auch Migrationsabkommen könnten mittelfristig helfen, wenn man den Staaten im Gegenzug etwas anbiete, zum Beispiel legale Wege in die EU. Aber er sagt auch: "Was überhaupt nicht hilft, sind Ablenkungsdebatten und Abschottungsrhetorik."
Acht von zehn Geflüchteten seien vergangenes Jahr aus der Ukraine gekommen. "Da helfen Abschiebeoffensiven für die konkreten Probleme gar nichts", sagt Marquardt t-online. Stattdessen fordert er jetzt "pragmatische Lösungen" in den Kommunen.
"Der Staat könnte Privatpersonen 500 Euro im Monat zahlen, wenn sie ein freies Zimmer für einen Geflüchteten zur Verfügung stellen", schlägt der Grünen-Politiker zum Beispiel vor. "Die Menschen könnten so ihre knappe Haushaltskasse aufbessern, und die Geflüchteten müssten nicht in überfüllte Massenunterkünfte, in denen die Unterbringung den Staat oft doppelt so viel kostet."
Doch ob der Flüchtlingsgipfel der richtige Rahmen für so konkrete Lösungen ist? Wohl eher nicht.
Gipfel als bewährtes Konzept
Für die Ampelregierung ist es ein bewährtes Konzept, Gipfel einzuberufen, wenn drängende politische Probleme gelöst werden müssen. Allein im vergangenen halben Jahr gab es diverse davon. Da war zum Beispiel der Fachkräftegipfel im September 2022, der Wärmepumpengipfel im November 2022, der Digitalgipfel im Dezember 2022 und der Krankenhausgipfel im Januar 2023.
Allein: Die Ergebnisse blieben überschaubar. In der Regel wurden anschließend große Pressekonferenzen gehalten. Nach dem Wärmepumpen-Gipfel gab es immerhin eine Sonderregelung für Wärmepumpen-Besitzer. Doch so konkrete Ergebnisse sind selten. Und im Zweifel auch ohne Gipfel möglich.
Die unheilige Gipfleritis-Allianz
Wer die Schuld an der Gipfleritis aber nur der Politik zuschiebt, macht es sich zu einfach. Wenn es um die Liebe zu Gipfeln geht, bilden Medien und Politik regelmäßig eine unheilige Allianz.
Denn sobald ein großes Problem auftaucht, verlangt die Öffentlichkeit von der Politik schnelle Lösungen. Da es die bei komplexen Problemen nur selten gibt, die Politik aber irgendwas tun muss, simuliert sie erst einmal Tatkraft – mit einem Gipfel.
Das muss nicht schlimm und kann sogar hilfreich sein. Etwa, wenn ein Gipfel Leute zusammenbringt, die sich sonst zu selten austauschen. Oder wenn das Treffen zum Startschuss einer ernsthaften und langfristigen Suche nach Lösungen wird.
Auch die große mediale Aufmerksamkeit, die so ein Gipfel einem Problem beschert, kann helfen. Doch zu oft ist es mit der Aufmerksamkeit dann so wie mit der Suche nach Lösungen: Wenn der Gipfel vorbei ist, ist die Luft raus. Und die Probleme bleiben liegen.
Der nächste Gipfel jedenfalls steht schon fest: Es soll ein Bildungsgipfel werden, eingeladen hat die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger von der FDP. Eigentlich sollte es ein Austausch mit den Landesbildungsministern sein – immerhin haben die Länder in den meisten Bildungsfragen die Hoheit.
Aber es wird wohl eine kleine Runde. Wahrscheinlich sogar eine sehr kleine. Wie "Table Media" berichtet, haben alle CDU- und CSU-Minister abgesagt, weil niemand Dekoration für eine Showveranstaltung sein wolle. Die CDU-Vizevorsitzende Karin Prien nannte die Veranstaltung bei "The Pioneer" nur: "Bildungsgipfelchen".
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Landrat Jens Marco Scherf, Erik Marquardt
- Statement von Landkreistag-Präsident Reinhard Sager