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Martin Schulz (SPD): "Orbán lässt sich gerade von Putin kaufen"


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Ex-SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz
"Orbán lässt sich gerade von Putin kaufen"


Aktualisiert am 03.10.2022Lesedauer: 6 Min.
Schulz mit Ungarns Premier Viktor Orban (l.):Vergrößern des Bildes
Martin Schulz und Viktor Orbán (links): Als Präsident des EU-Parlaments stritt der SPD-Politiker regelmäßig mit Ungarns Premier. (Quelle: POOL DIDIER LEBRUN/imago-images-bilder)
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Martin Schulz, einst großer Hoffnungsträger der SPD, wirkt inzwischen eher im Hintergrund. Wie blickt er auf Scholz, Schröder und Deutschland in der Krise?

Martin Schulz ist guter Laune. Gegenüber von seinem Büro in der Friedrich-Ebert-Stiftung tagt gerade die Ministerpräsidentenkonferenz, am nächsten Tag reist er in den Libanon. Für das Interview nimmt er sich mehr Zeit, als er eigentlich hat. "Ach lass doch, macht doch Spaß!", sagt er und lacht, als sein Mitarbeiter auf die Uhr tippt.

Im Frühjahr 2017 war Schulz der gefeiertste Politiker im Land und bereits gefühlter Kanzler. Doch dann folgte der Absturz, die SPD verlor die Wahl. Inzwischen leitet Schulz die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung und widmet sich dabei Themen, die ihm schon lange besonders wichtig sind: dem Kampf gegen Rechtsextremismus sowie der Vernetzung von Demokratien in Europa und der Welt.

Ein Gespräch über die Fehler seiner Parteikollegen Scholz und Schröder, Gefahren für die EU durch neue, rechte Regierungen und den schwierigen Spagat zwischen Moral und Handeln in der Außenpolitik.

t-online: Immer mehr Bürger in Deutschland haben Probleme, ihre Rechnungen zu bezahlen. Stehen uns in den nächsten Monaten Unruhen bevor?

Martin Schulz: Das glaube ich nicht. Die Regierung gibt sich große Mühe, die Folgelasten dieses Krieges zu begrenzen. Der Gaspreisdeckel wird helfen, ebenso die Energiepauschale. Die Mehrheit der Menschen sieht, dass die Regierung handelt.

Doch der anhaltende Krisenmodus gibt Verschwörungstheoretikern Auftrieb. Und zwar in einem Ausmaß, wie wir es zuvor nicht kannten. Sehen Sie Möglichkeiten für die Politik, gegenzusteuern?

Die Politik muss wahrhaftig bleiben. Sie muss Fakten und Wahrheit mehr Raum geben als Verdrehungen und Lügen, die in die Debatte geworfen werden. Das ist im Übrigen ebenso Aufgabe der Medien. Seriöse Medien sollten den Propagandisten keine Plattform geben.

Martin Schulz
Martin Schulz: Der Ex-Kanzlerkandidat leitet jetzt die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. (Quelle: Christian Spicker/imago-images-bilder)

Zur Person

Martin Schulz, 66 Jahre alt, ist gelernter Buchhändler und war elf Jahre lang Bürgermeister von Würselen. Mit 19 trat er in die SPD ein. Von 1994 bis 2017 war er Mitglied des Europäischen Parlaments, zuletzt als dessen Präsident. 2017 wählte ihn seine Partei mit 100 Prozent der Stimmen zum Kanzlerkandidaten. Doch aus dem anfangs gefeierten "Schulz-Zug" wurde am Ende das schlechteste Ergebnis der Partei in der Nachkriegszeit. Im Dezember 2020 wurde Schulz zum Vorsitzenden der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gewählt.

Keine Sendezeit für Alice Weidel und Sahra Wagenknecht also, wenn es nach Ihnen geht?

Das ist natürlich Sache der Redaktionen. Aber Klickzahlen und Einschaltquoten sollten nicht allein entscheiden.

Die Verlockungen des Populismus aber sind groß. CDU-Chef Friedrich Merz hat gerade – ohne Beweise – von "Sozialtourismus" in Bezug auf ukrainische Flüchtlinge gesprochen. Ein Wort, das eigentlich die NPD und die AfD verwenden.

Der Kurs von Friedrich Merz ist sehr bedenklich und die Aussage ist wirklich das Letzte. Ich glaube, er hat dafür in seiner eigenen Partei aber noch keine Mehrheit. Das zeigt: Die CDU wird in den nächsten Jahren noch große Probleme haben, ihre Linie zu finden.

Das Problem geht weit über Deutschland hinaus. Nach Ungarn und Polen sitzen nun bald auch in Italien und Schweden Rechtspopulisten und Postfaschisten in der Regierung. Wie groß ist die Herausforderung für Deutschland und die EU?

Riesig. Es gibt nun innerhalb der EU eine ideologische Front gegen die Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit. Die extreme Rechte ist keine Randerscheinung mehr, sondern regiert in einigen Ländern – in Ungarn, in Polen und mit Italien möglicherweise sogar in einem G-7-Staat. In Schweden und Italien sind es bürgerliche Parteien, die das erst ermöglichen. Sie haben keine Konsequenzen aus der Vergangenheit gezogen.

Was meinen Sie damit?

Den Nationalsozialisten verhalfen Deutschnationale zur Macht. Wer die Brandmauer nicht hält, öffnet den Brandstiftern die Tür.

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Wie sollte die EU mit diesen Regierungen in ihrer Mitte umgehen?

Die proeuropäischen Parteien müssen verstehen, dass die europäische Idee in ihrem Kern angegriffen wird. Sie müssen sich den Renationalisierungsstrategien entgegenstemmen und klar sagen: Mit uns wird es keine Entwicklung zum Nationalismus geben.

Das aber ist schwierig. Ungarn und Polen blockieren schon jetzt ständig wichtige Entscheidungen der EU. Nicht nur Kanzler Scholz fordert deswegen ein Ende für das Einstimmigkeitsprinzip. Droht die EU, unregierbar zu werden?

Was Polen und Ungarn angeht, würde ich gelassen bleiben: Die stehen sich ideologisch zwar sehr nahe, das wars dann aber auch schon. Ungarns Premier Orbán lässt sich gerade von Putin kaufen, da gehen in Polen alle auf die Barrikaden. Das zeigt: Ein dauerhaftes internationales Bündnis der Ultranationalisten ist schwer zu bilden.

Also ist Scholz' Forderung unnötig?

Nein, sie ist sehr richtig. Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips fordere ich bereits seit Jahrzehnten. Denn es ist Blödsinn. In der EU sitzen zu viele Staaten an einem Tisch, um ständig einstimmig zu entscheiden. Es braucht Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip.

Blicken wir nach Deutschland. Olaf Scholz steht als Kanzler häufig in der Kritik. Er sei führungsschwach, wirft man ihm zum Beispiel vor. Ist Olaf Scholz ein guter Kanzler?

Ja.

Gibt es Dinge, die Sie anders machen würden?

Wir leben in aufgewühlten Zeiten. Klimawandel, Krieg, allgemeine Verunsicherung mit Blick in die Zukunft – da braucht es jemanden, der die Nerven bewahrt, der nicht jeder Schlagzeile, jeder populistischen Forderung nachläuft. Da macht Olaf Scholz einen sehr, sehr guten Job.

Seine Weigerung, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, wird stark kritisiert. Würden Sie liefern?

Deutsche Alleingänge lehne ich ab. Die Nato-Verbündeten haben eine gemeinsame Strategie, an die sich auch die Bundesrepublik hält. Das Interessante ist: Diese Waffenlieferungs-Debatte wird nur in Deutschland geführt. Ich verfolge die europäische Presse intensiv, weder in Rom noch in Paris noch in Madrid gibt es diese Diskussion. Umso mehr muss der Kanzler die Nerven behalten.

Unabhängig von jeder Debatte: Die von Putin angegriffene Ukraine fordert Panzer.

Aber schauen Sie sich an, was die Bundesrepublik schon liefert. Wir sind zum Beispiel einer der größten Finanziers der Ukraine. Ich finde schon, dass wir diesen Fakt vor dem Hintergrund der Forderungen der Ukraine nicht außer Acht lassen dürfen. Das geht in der öffentlichen Wahrnehmung unter. Waffenlieferungen müssen immer in engster Abstimmung mit unseren Partnern erfolgen, da darf es keine Alleingänge geben.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg argumentiert aber wie die USA: Deutschland könne gerne liefern.

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Dass die Bundesrepublik Deutschland die Führungsmacht in der Nato ist, ist mir neu. Das waren und sind noch immer die USA.

Sprechen wir über einen anderen SPD-Kanzler: Gerhard Schröder. Schämen Sie sich für ihn?

Warum sollte ich mich für Gerhard Schröder schämen?

Weil er ein Parteikollege ist, eine ehemals prägende Figur in der SPD – die sich nun nicht von Putin distanziert, sondern sich weiter aus Russland bezahlen lässt.

Ich habe schon als Kanzlerkandidat 2017 Gerhard Schröder öffentlich aufgefordert, das Mandat bei Rosneft nicht anzunehmen. Schröder hat sich ein großes Verdienst erworben, als er Deutschland nicht in den Irakkrieg geführt hat. Ich hätte mir für ihn gewünscht, dass dies sein Vermächtnis geblieben wäre. Dass er nun wegen seiner Nähe zu Putin in die Geschichte eingeht, stimmt mich eher traurig.

Die SPD hat die Geschäfte mit Russland mitgetragen und auch forciert. Welche Fehler Ihrer Partei sehen Sie?

Eine so große Energieabhängigkeit darf nicht sein, eine solche Politik ist riskant. Es gab jedoch einen breiten nationalen und internationalen Konsens, russisches Gas zu importieren. Die SPD arbeitet ihre Politik auf. Das sollte die CDU, deren langjährige Parteichefin Angela Merkel als Kanzlerin für diese Politik stand, auch tun. Die FDP hat ebenfalls in dieser Zeit regiert. Und die Russland-Geschäfte haben im Übrigen die Chefs der deutschen Wirtschaft am stärksten propagiert.

Außenministerin Annalena Baerbock will nun einen anderen Weg gehen: den einer wertegeleiteten, feministischen Außenpolitik. Kann das funktionieren?

Der Ansatz einer feministischen Außenpolitik ist gut und richtig. Ich bin immer wieder beeindruckt davon, dass da, wo Frauen stärker in politischer Verantwortung stehen, Konflikte seltener eskalieren. Aber es ergibt keinen Sinn, ausschließlich unsere westlichen Moralmaßstäbe zur Grundlage unserer Außenpolitik zu machen. Die Mehrheit der Menschheit auf der Welt lebt leider nicht in Demokratien.

Ansonsten aber ist das Risiko enorm, dass der nächste Kriegsherr von Deutschland die Kassen gefüllt bekommt.

In der internationalen Politik muss man anerkennen: Alles hängt mit allem zusammen. Ein Beispiel: Eine Schlüsselrolle im Ukraine-Krieg spielt China. Wenn Xi Jinping zu Putin sagt: "Das reicht jetzt", dann wäre das ein Fortschritt. Chinas Staatschef hat sicher großen Einfluss auf den Kriegsherren Putin. Gespräche und Handel mit China, einem undemokratischen Land, könnten also helfen, einen demokratischen Staat wie die Ukraine zu sichern.

Die Bundesregierung denkt gerade über eine Neuausrichtung der Chinapolitik nach. Also ein Fehler aus Ihrer Sicht?

Wir müssen sehen, wie wir unsere Werte verteidigen, vielleicht auch exportieren können. Aber dabei dürfen wir unsere Kraft und Macht nicht überschätzen. Deutschland alleine ist dazu nicht stark genug. Die Europäische Union mit ihrer enormen Wirtschaftskraft, an der auch China nicht vorbeikommt, wäre dazu schon in der Lage. Ein Grund mehr, warum die Antwort auf die Krisen nicht mehr Nationalstaat, sondern mehr Europa ist.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schulz!

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Martin Schulz am 28. September
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