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Angela Merkel über Wladimir Putin: Hat sie denn gar nichts falsch gemacht?


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Angela Merkel über Wladimir Putin
Leute, ich war doch nicht naiv!


Aktualisiert am 08.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Erstes Interview als Ex-Kanzlerin: Angela Merkel stellte sich den Fragen eines Journalisten. (Quelle: reuters)
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Zum ersten Mal seit dem Ende ihrer Amtszeit stellt sich Angela Merkel öffentlich Fragen. Persönlich wirkt sie dabei wie ausgewechselt, inhaltlich fällt ihr der kritische Blick zurück dagegen schwer.

Eine gute Dreiviertelstunde dauert das Gespräch zwischen Angela Merkel und dem Journalisten Alexander Osang nun schon, da redet sich die frühere Kanzlerin für ihre Verhältnisse geradezu in Rage.

Die Kritik, sich zu spärlich zum Überfall Russlands auf die Ukraine geäußert zu haben, kontert sie mit einer langen Ausführung. Und damit sie ihre Punkte auch tatsächlich machen kann, gibt sie sich sicherheitshalber selbst ein paar Stichworte.

"Wer bin ich heute?", fragt Merkel – und erklärt zunächst einmal eine nicht zu bestreitende Tatsache: "Ich bin Bundeskanzlerin a.D." Diese Tätigkeit, das wird dann schnell klar, versteht sie so, dass es nicht zu ihren Aufgaben gehört, "Kommentare von der Seitenlinie zu geben". Und sie macht auch deutlich, dass sie es als große Erleichterung empfindet, sich nicht mehr zu allem und jedem äußern zu müssen. Etwa zu der Frage, ob das 9-Euro-Ticket gut sei.

Und wen das noch immer nicht überzeugt, den lässt Merkel wissen, dass sie es "nicht unendlich lang" findet, sich nach 16 Jahren Kanzlerschaft und 30 Jahren Politik ein halbes Jahr nicht groß öffentlich geäußert zu haben.

Das ist, wenn man so will, die offizielle Begründung für ihre Zurückhaltung. Und man kann sie nachvollziehbar finden oder auch nicht. Aber es gibt eben auch noch eine persönliche Erklärung. Und die ist vor allem deshalb interessant, weil sie zeigt, welche Last von der 67-Jährigen gefallen sein muss, als Olaf Scholz am 8. Dezember zu ihrem Nachfolger gewählt wurde. Und wie sehr ihr Hinweis an anderer Stelle, man habe "an allen Ecken und Enden gemerkt", dass es Zeit für eine neue Regierung gewesen sei, eben auch für die Chefin gegolten hat.

Auf die Frage "War es der richtige Zeitpunkt, zurückzutreten?" antwortet sie erst einmal nur trocken "Nicht wieder anzutreten!". Ein wichtiger Unterschied. Und ob sie trotz des Ukraine-Krieges nach Italien reisen dürfe? Aber Hallo! Sie könne ja jetzt nicht für den Rest ihres Lebens in die Uckermark gehen – egal, was passiere.

Und wo sie schon mal dabei ist: Sie habe auch im Vorfeld dieses Termins im Berliner Ensemble, bei dem sie sich erstmals seit dem Ende ihrer Amtszeit öffentlich Fragen stellt, wieder lesen müssen, dass sie nur noch Wohlfühltermine mache. Und da könne sie sagen: "Ja!" Denn, und das sagt sie in das Lachen des Publikums hinein: "Ich möchte auch etwas machen, das mir Freude macht."

Endlich frei. Endlich selbst entscheiden. Endlich wieder eine Frau mit eigenem Willen sein.

Das ist die Erkenntnis dieses Dienstagabends: Da sitzt eine Angela Merkel, die zwar weiter ihre Kanzlerinnenuniform (graue Hose, Einheitsblazer in blau, Halskette) trägt, sich aber persönlich ein wenig wie neugeboren fühlen dürfte. Sie zeigt nun ohne jede Scheu auch öffentlich jenen Humor, jene Schlagfertigkeit und ja: jene Angriffslust, die sie während ihrer Amtszeit zumeist nur für Vertraute reserviert hatte.

Politisch aber, wenn es also um die Inhalte geht, ihre Politik inklusive der Misserfolge, da fällt ihr die Loslösung von der eigenen Vergangenheit deutlich schwerer.

Wobei ein Teil jener übergroßen Frage, die so etwas wie das Leitmotiv dieses Abends ist, bereits beantwortet wäre: Wie geht es ihr eigentlich – als Angela Merkel und als Ex-Kanzlerin? "Persönlich sehr gut", sagt sie. Und sie lässt in den rund 100 Minuten auch bloß keine Gelegenheit zu, dass jemand auf andere Gedanken kommen könnte.

Aber klar, sie habe sich die Monate nach ihrer Amtszeit "anders vorgestellt". Der Ukraine-Krieg sei eine "Zäsur, die mich beschäftigt". Später findet sie noch deutlichere Worte, spricht von "einer großen Tragik". Es gebe für den brutalen Angriffskrieg keinerlei Rechtfertigung, keine Entschuldigung, er sei von Russlands Seite ein schwerer Fehler. Soll bloß keiner denken, sie habe für Wladimir Putins Verhalten auch nur ein Mü Verständnis.

Auch wenn Merkel in der Vergangenheit gern so getan hat, als interessiere sie sich nicht besonders für ihren Platz in der Geschichte, weiß sie natürlich, dass nun eben auch ihr Vermächtnis auf dem Spiel steht. Bleibt sie die Frau, von der es heißen wird, sie habe Deutschland gut durch alle Krisen manövriert? Oder wird das Urteil lauten, sie habe durch einen Kuschelkurs gegenüber Russland die größte europäische Krise der Nachkriegszeit erst möglich gemacht?

Merkel setzt diesen Gedanken ein doppeltes "Moment!" entgegen. Erstens: Sie sei doch nicht naiv gewesen. Zweitens: Die anderen sollten es auch nicht sein.

Sie erzählt von einem Treffen mit Wladimir Putin 2007, da war sie noch nicht allzu lang im Amt. Der russische Präsident habe ihr gesagt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion für ihn das schlimmste Ereignis des 20. Jahrhunderts gewesen sei.

Zwar hat sie ihm nach eigener Aussage erwidert, für sie sei es ein großes Glück gewesen. Aber das ist an dieser Stelle natürlich nicht ihre wichtigste Botschaft: Sie will deutlich machen, dass sie schon immer gewusst habe, woran sie bei Putin ist. An das deutsche "Wandel durch Handel"-Mantra glaubte sie nach eigenem Bekunden auch nicht. Zu keiner Zeit habe sie sich der Illusion hingegeben, dass Putin durch Handel gewandelt werde. Zumal Putins Feindschaft "gegen das westliche demokratische Modell" gehe. "Er wünscht uns kein Wohlergehen".

Aber, und da kommt jetzt das zweite Stoppschild, Merkel sagt indirekt eben auch: Leute, seid ihr doch auch nicht naiv! Das klingt mit Blick auf Putin dann so: "Aber ich kann ja nicht so tun, als gäbe es ihn nicht." Oder: "Aber ich kann ihn nicht aus der Welt schaffen." Und ganz allgemein gibt die Kanzlerin den Hinweis, Debatten nicht nur in Schwarz-Weiß-Kategorien zu führen.

Das ist aus Merkels Perspektive vielleicht der größte Unterschied zwischen einem Normalbürger und einer Kanzlerin: Letztere muss sich mit bestimmten realpolitischen Gegebenheiten arrangieren und kann nicht sagen: "Das interessiert mich aber nicht".

Und trotzdem wirkt diese "Eigentlich keine Fehler gemacht"-Botschaft angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine und der historischen Umwälzungen in Deutschland dann doch fast zu schön, um wahr zu sein. Hat sie denn gar nichts falsch gemacht?

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Dass Merkel sich mit einer nüchternen Betrachtung schwertut, zeigt sich schon allein daran, dass sie von der Ich- in die unpersönliche Form wechselt. Natürlich habe sie sich gefragt: "Was hat man versäumt? Hätte man das verhindern können? Was hätte man machen können?". Aber sie mache sich keine Vorwürfe. Diplomatie sei ja nicht falsch, wenn sie nicht gelinge.

An anderer Stelle, da geht es weniger um ihre direkte Verantwortung, zieht sie dann doch eine beinahe bittere Bilanz auch ihrer Außenpolitik. Es sei nicht gelungen, den Kalten Krieg zu beenden und in Europa eine Sicherheitsarchitektur zu bauen, die den Ukraine-Krieg verhindern konnte. Dass sich auch ihr historischer Blick in den vergangenen Monaten deutlich verändert hat, offenbart sie mit Sätzen wie diesem: "Was hatten wir für ein Glück, dass das 89/90 so gelaufen ist". Danach habe sich die Weltlage verdüstert.

Und trotzdem noch einmal der Versuch: Es war ja auch Deutschland, das vor knapp 15 Jahren den Nato-Beitritt der Ukraine verhinderte. Das sehen viele heute als Fehler. Hat die damalige Kanzlerin dabei keine politische Schuld auf sich geladen?

Auch hier ein klares Nein von ihrer Seite – und der implizite Hinweis, dass rückblickende Kritik oft auch etwas Wohlfeiles habe. Die Ukraine sei damals gespalten und ein von Oligarchen beherrschtes Land gewesen: "Da kann man nicht sagen: 'Wir nehmen Euch morgen in die Nato auf'".

Und dann gibt sie noch den bemerkenswerten Satz zu Protokoll: Sie sei damals sicher gewesen, dass Putin einen Nato-Beitritt "nicht geschehen lassen wird". Was wohl so viel heißt wie: Wer weiß, vielleicht hätte es damals bereits einen Krieg gegeben. Und damit es auch wirklich jeder versteht, fügt sie hinzu: Sie habe Putins Haltung nicht geteilt, aber gewusst, wie er dachte. Da ist es wieder, das gern bemühte Merkel-Motto "Die Dinge vom Ende her denken".

Aber immerhin, eine Sache liege ihr dann doch "etwas schwer im Magen". Im vergangenen Sommer traf sich Putin mit US-Präsident Joe Biden. Da habe sie versucht, auch von Seiten der Europäer noch mal auf Russland zuzugehen. Ohne Erfolg, kaum jemand sei mitgezogen. Jahre zuvor, sagt Merkel, hätte sie ihr Anliegen vielleicht noch durchgeboxt.

Aber sie war vor einem Jahr eben schon eine Kanzlerin auf Abruf – und verfügte nur noch über wenig Durchsetzungskraft. Hat Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine also womöglich gewartet, bis sie nicht mehr Kanzlerin ist? Solche Fragen fand Merkel schon immer nicht besonders zielführend. "Kann sein. Kann nicht sein. Reine Spekulation", sagt sie nun.

Keine Spekulation ist es allerdings, sich Merkels Alltag als Bundeskanzlerin a.D. auszumalen. Zwei Dinge, erzählt sie, habe sie sich für ihren neuen Lebensabschnitt vorgenommen: mehr Bewegung und "Sachen lesen, zu denen ich nicht gekommen bin". Dabei habe sie auch das "Feld des Hörbuchs" für sich entdeckt, wie sie etwas Merkel-sperrig formuliert. Doch pragmatisch-praktisch, wie sie eben auch veranlagt ist, schildert sie gleich deren Vorteil: Man müsse sich beim Zuhören nicht so konzentrieren wie beim Lesen.

Und falls jemand die Sorge haben sollte, dass der einst mächtigsten Frau der Welt nun der Boreout droht, tritt sie dem auch entgegen. Bei einem fünfwöchigen Urlaub an der Ostsee im Winter sei ihr nicht langweilig geworden. Auch wenn sie darüber selbst zunächst überrascht war, denn sie fügt ein "erstaunlicherweise" hinzu.

Ach so, eigentlich sollte es an diesem Abend ja um ein Buch gehen. "Was also ist mein Land?", so der Titel der kleinen Sammlung mit drei Kanzlerinnen-Reden – unter anderem zum Tag der Deutschen Einheit 2021. Angela Merkel und Alexander Osang sind längst über der vorgesehenen Zeit, als sie merken, dass sie gar nicht über das Buch gesprochen haben.

Merkel rettet den etwas unangenehmen Moment mit einem dezenten Hinweis darauf, dass sie die Bücher im Anschluss signiert: "Falls jemand Lust hat: Ich sitze da noch und unterzeichne." Allerdings folgt noch ihr Warnhinweis: Es gebe nur eine Unterschrift, keine Widmung.

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Verwendete Quellen
  • Besuch der Veranstaltung im Berliner Ensemble
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