Wiederaufnahme von Strafverfahren Steinmeier zweifelt Verfassungstreue von Groko-Gesetz an
Ein neues Gesetz der vorherigen Regierung sieht vor, dass Strafverfahren nach einem Freispruch noch einmal aufgenommen werden können. Bundespräsident Steinmeier hegt starke Zweifel daran – aber hat dennoch zugestimmt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Zweifel an einem von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetz zur Wiederaufnahme von Strafverfahren bei schwersten Straftaten geäußert. Wie das Bundespräsidialamt am Mittwoch mitteilte, unterzeichnete er das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung zwar, regte aber zugleich an, es im Bundestag erneut zu prüfen.
"Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich allerdings an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen", schrieb er demnach an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Kanzler Olaf Scholz und Bundesratspräsident Bodo Ramelow.
Verfahren können nach Freispruch wieder aufgenommen werden
Durch die Reform ist es künftig möglich, Strafprozesse zu schwersten Straftaten wie Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erneut aufzurollen, auch wenn sie zuvor mit einem Freispruch endeten. Voraussetzung ist, dass es neue Beweismittel gibt und dadurch eine Verurteilung des Freigesprochenen wahrscheinlich ist. Neue belastende Informationen können etwa durch neue Untersuchungsmethoden und Fortschritte in der digitalen Forensik zutage treten.
Es gebe jedoch verfassungsrechtliche Fragen, die in Rechtsprechung und Literatur streitig behandelt würden, schrieb Steinmeier laut Präsidialamt in seinem Brief. Er sehe "jedenfalls einige dieser Zweifel nach eingehenden Gesprächen mit Verfassungs- und Strafrechtsexpertinnen und -experten bestätigt". So gebe es Bedenken, weil niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden dürfe. Diese Vorgabe des Grundgesetzes schütze nach allgemeiner Auffassung auch vor jeder weiteren Strafverfolgung nach Freispruch oder gerichtlicher Einstellung eines Verfahrens.
Steinmeier kritisiert "Schwebezustand"
Außerdem sei zweifelhaft, ob das Gesetz mit dem sogenannten Rückwirkungsverbot vereinbar sei. "Mit der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe bei Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person würden Freisprüche indes rückwirkend grundsätzlich infrage gestellt", argumentierte Steinmeier laut Präsidialamt. "Die Freigesprochenen sähen sich zukünftig in der Situation, dass ihr Freispruch nachträglich in einen Schwebezustand geriete." Steinmeiers Zweifel basieren auf dem in Artikel 103 des Grundgesetzes verankerten Grundsatz "ne bis in idem" (lateinisch für: nicht zweimal für dieselbe Tat angeklagt werden).
Dem Bundespräsidenten obliegt es laut Grundgesetz, parlamentarisch verabschiedete Gesetze "auszufertigen" und dadurch in Kraft zu setzen. In Artikel 82 heißt es: "Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet."
Dieser Artikel wird von Staatsrechtlern so ausgelegt, dass der Bundespräsident nur ein formelles, nicht aber ein inhaltliches Prüfrecht hat. Er kann Gesetze nur beanstanden, wenn er Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit hat – nicht jedoch, wenn ihm ihr Inhalt politisch missfällt.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP