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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Staatsrechtler Corona: Wäre ein neuer Lockdown rechtmäßig?
Die Pandemielage in Deutschland verschärft sich derzeit erneut dramatisch. Rufe nach einem Lockdown für Ungeimpfte werden laut. Wäre das überhaupt möglich? Ein Experte erklärt die rechtliche Situation.
Seit Tagen eskaliert die Corona-Pandemie in Deutschland erneut, die vierte Welle ist mit voller Wucht angekommen. Doch die Impfquote steigt nur langsam, derzeit sind rund 70 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Flächendeckende 2G-Regelungen und auch ein erneuter Lockdown sind im Gespräch. Doch wäre das mit der Verfassung vereinbar?
Ralf Müller-Terpitz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mannheim, sagt: "Nein. Einen allgemeinen Lockdown, so wie wir ihn 2020 erlebt haben, halte ich gegenwärtig für unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig."
Das gelte vor allem für Geimpfte, die ihren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie ja schon geleistet hätten. Bei den Ungeimpften müsse man auch die Verhältnismäßigkeit bedenken. "Für Ungeimpfte halte ich einen Lockdown für rechtlich vertretbar, sofern Bereiche der medizinischen und persönlichen Daseinsvorsorge offen gehalten werden." Der Zugang dazu müsse erhalten bleiben, anders gehe das nicht.
Intensivbetten in Bayern schon knapp
Mehr als 50.000 Neuinfektionen meldete das Robert Koch-Institut am Mittwoch, in der vergangenen Woche erreichten die Fallzahlen einen ähnlichen Wert. Auch in den Kliniken stehen immer weniger Betten für Intensivpatienten zur Verfügung.
Krankenhäuser wie die Berliner Charité sagen planbare Operationen ab. In Bayern werden die Intensivbetten knapp. Die Ampelparteien SPD, FDP und Grüne wollen noch in dieser Woche einen Plan vorstellen, wie die Bekämpfung der Pandemie weitergehen kann.
Im Grundgesetz heißt es: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das gilt auch und vor allem wohl in einer Pandemie. "Der Gesundheitsschutz und der unserer Verfassung zugrundeliegende Solidaritätsgedanke gebieten es, dass die Rechte des Einzelnen – auch der Geimpften – in einer solchen Situation zurücktreten müssten", erklärt der Professor. Das bedeutet, dass Einschränkungen selbst für Menschen gelten könnten, die sich bislang in der Pandemie umsichtig verhalten haben und sich haben impfen lassen. Zum Wohle aller müssen Geimpfte dann eben auch verzichten.
"Wer für sich das Recht in Anspruch nimmt, sich nicht impfen zu lassen, kann daraus keine Legitimation für die Gefährdung anderer herleiten", führt Müller-Terpitz weiter aus. Ungeimpfte könnten Einschränkungen entgehen, indem sie sich doch noch zur Impfung gegen das Coronavirus entscheiden.
Debatte um Impfpflicht kocht erneut hoch
Auch die Debatte um eine Impfpflicht ist wegen der hohen Corona-Zahlen neu entbrannt. Mehrere Politiker wie der FDP-Fraktionsvize Michael Theurer und auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder haben sich dafür ausgesprochen, für bestimmte Berufe eine solche Pflicht einzuführen. Grundsätzlich kann der Staat das nämlich nach Paragraf Absatz sechs und sieben des Infektionsschutzgesetzes verordnen.
Müller-Terpitz sagt dazu: "Für Personen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kitas halte ich eine Impfpflicht für durchaus zulässig". Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht halte er jedoch für einen gravierenderen Eingriff als eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Professor Ralf Müller-Terpitz am 15. November 2021