Taliban nehmen Kundus ein Joschka Fischer: "Für Afghanen beginnt eine neue Schreckenszeit"
In Afghanistan rücken die Taliban vor, am Sonntag haben sie mit Kundus die fünfte zentrale Stadt in wenigen Tagen eingenommen. Diese Eroberung sei "von uns nicht zu verhindern" gewesen, sagt Ex-Außenminister Joschka Fischer.
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) rechnet nach der Einnahme der Stadt Kundus mit einer Verschlechterung der Lage für das ganze Land. "Es beginnt eine neue Schreckenszeit für die Afghanen", sagte der Ex-Minister dem "Tagesspiegel". Er betonte: Die Eroberung der Stadt sei "von uns nicht zu verhindern" gewesen. Als zentral bewertet Fischer das Halten der Hauptstadt. "Entscheidend wird Kabul und was dann passiert", so Fischer.
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Fischer hatte 2003 mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) entschieden, Soldaten der Bundeswehr in den Norden Afghanistans zu schicken. "Aus Bündnissolidarität", sagte er nun.
Die Grünen fordern einen Abschiebestopp für das Land
Die Grünen haben angesichts des Vormarschs der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan ihre Forderung nach einem Abschiebestopp für das Land bekräftigt. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: "Der Fall der ersten Provinz-Hauptstädte zeigt, dass Afghanistan nicht sicher ist und deshalb kein Ziel für Abschiebungen sein kann." Das solle auch CDU-Chef Armin Laschet endlich einsehen.
"Das Agieren der Taliban führt die Rhetorik der Bundesregierung ad absurdum, die Dschihadisten hätten den Willen zu Friedensgesprächen", sagte Nouripour. "Es ist zudem eine Frage der Zeit, bis al-Qaida und Konsorten wieder vom Hindukusch aus operieren. Die Bundesregierung muss jetzt dringlich das Gespräch mit der Regierung in Kabul suchen und diskutieren, wie der Westen noch gegen den Kollaps alles Erreichten in Afghanistan wirken kann."
Mehr als vier Mal so viele Binnenflüchtlinge
Gleichzeitig ist mit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan die Zahl der Binnenflüchtlinge seit Anfang Mai massiv gestiegen. Bis Ende Juli verließen annähernd eine Viertelmillion Menschen in dem Land ihre Dörfer und Städte. Die UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) bezifferte die Zahl am Montag auf mehr als 244.000 – mehr als vier Mal so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Der Großteil der Binnenflüchtlinge floh demnach aus Provinzen im Nordosten und Osten vor bewaffneten Kämpfen.
Insgesamt leben in Afghanistan etwa 37 Millionen Menschen. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) verlassen jede Woche etwa 30.000 Afghanen ihr Land. Die Schätzungen basieren auf Umfragen bei Migranten und Schleusern.
Die Taliban eroberten fünf Provinzhauptstädte in drei Tagen
Allein am Sonntag eroberte die radikalislamische Miliz drei Provinzhauptstädte, darunter die Stadt Kundus, in deren Nähe die Bundeswehr jahrelang ein großes Feldlager unterhalten hatte. Damit fielen innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte in die Hände der Islamisten. Die Taliban haben seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai bereits weite Teile des Landes erobert. Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Kundus ist ihr bislang größter Erfolg.
Während des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan war die Bundeswehr rund ein Jahrzehnt lang in Kundus stationiert. Von 2003 bis 2013 überwachten deutsche Soldaten vom Feldlager Kundus aus die Sicherheit im Norden des Landes. Bis Ende November 2020 waren noch rund 100 Bundeswehrsoldaten im "Camp Pamir" als Ausbilder für die afghanischen Streitkräfte vor Ort, Ende April wurde der Standort offiziell an das afghanische Militär übergeben.
- Tagesspiegel: "Es beginnt eine neue Schreckenszeit für die Afghanen"
- Nachrichtenagentur AFP und dpa