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Rassismus nach EM-Finale: England erntet, was es gesät hat


Meinung
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Rassismus nach EM-Finale
England erntet, was es gesät hat

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

15.07.2021Lesedauer: 5 Min.
Englische Fans im Stadion: Es gab Buhrufe bei den Nationalhymnen.Vergrößern des Bildes
Englische Fans im Stadion: Es gab Buhrufe bei den Nationalhymnen. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)
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Die EM hatte ihre Schattenseiten. Englands Fans fielen auch durch Buhrufe, Beleidigungen und rassistische Anfeindungen auf. Die Entgleisungen haben dabei auch mit dem Brexit zu tun.

Eines vorweg: Ich war für England, genauer gesagt für die englische Fußballmannschaft. Ich habe gejubelt wie ein kleines Kind, als sie in der zweiten Minute ein Tor erzielte – fast so, als hätte die DFB-Elf in diesem Finale der Europameisterschaft getroffen. Weiß und Rot im Herzen sang ich: "Football is coming home" und "Sweet Caroline".

Viele in meiner Familie waren indes für Italien, wie vermutlich die meisten Menschen in Europa. Aber 55 Jahre seit dem WM-Titel 1966 sind eine echt lange Zeit. Zudem haben die englischen Spieler in den vergangenen Jahren bittere Niederlagen erlitten. Sie wären gefühlt aber auch spielerisch an der Reihe gewesen – sie waren auf Augenhöhe mit Italien, dem besten Team der EM, das Spiel war ausgeglichen.

Das Land hat es (noch) nicht verdient

Die "dritte Halbzeit" zeigt aber wieder einmal, warum es am Ende vielleicht doch gut gewesen ist, dass England nicht gewonnen hat. Im Gegensatz zur Mannschaft hat es das Land (noch) nicht verdient zu gewinnen. Selbst wenn es mir für die allermeisten Engländer ebenfalls leidtut und ich ihnen den Titel ebenso gewünscht hätte, aber auch sie stehen in der Verantwortung für die hässlichen Ausfälle der übrigen englischen Fans. Das ganze Land tut es.

Klar, Jadon Sancho und Marcus Rashford können keine Elfmeter schießen. Aber was hat das mit ihrer Hautfarbe zu tun? Nichts, ums Himmels willen! Im Finale einer Europameisterschaft macht man keine Spielchen, man verzögert nicht, tänzelt nicht zum Ball. Wer zu nervös ist und keine Idee hat, sucht sich eine Ecke und schießt hart und kompromisslos aufs Tor. Wenn Jadon Sancho und Marcus Rashford das nicht selbst wissen, wäre es Aufgabe des Trainers gewesen, ihnen das zu sagen.

Mutterland der Hooligans

Apropos Trainer. Die Niederlage geht, so leid es mir auch für ihn tut, 25 Jahre nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Deutschland ebenso auf die Rechnung von Gareth Southgate. Was hat den Mann geritten, einen 19-jährigen Jungen wie Bukayo Saka den letzten Elfmeter und damit die größte Last aufzubürden? Während sowohl Kapitän Harry Kane als auch der erfahrene Abwehrrecke Harry Maguire die ersten beiden bekamen?

Selbst wenn Bukayo Saka den 5. Schuss gewollt hätte, hätte Gareth Southgate sein Veto einlegen müssen. Doch statt den Trainer zu kritisieren, attackieren einige rassistische englische Fans die drei Spieler.
Solche Probleme hat England, das Mutterland der Hooligans, schon lange, deshalb stehen das Land und die Football Association (FA) besonders in der Verantwortung. Das Auspfeifen gegnerischer Nationalhymnen ist dermaßen von gestern, aber in England bei manchen immer noch State of the Art. Klar, andere Fans machen das auch, aber da war ja noch mehr. Stichwort: Achtelfinale.

Was ist los mit euch?

Nach dem Sieg über Deutschland feindeten englische Fans voller Hass ein Kind an, ein kleines Mädchen, das im Wembley-Stadion bitterliche Tränen über das Ausscheiden Deutschlands vergossen hatte und von den Fernsehkameras eingefangen worden war. Gareth Southgate muss an den Weltkrieg vor mehr als 75 Jahren denken, um die Stimmung nach dem Ausgang eines Fußballspiels zu erklären. Was ist los mit euch?

Fans buhen das Knien der eigenen englischen Spieler als Antirassismus-Geste vor einer Partie aus – und dürfen sich dabei der Rückendeckung durch die konservative Regierung sicher sein. Die britische Innenministerin Priti Patel meinte, sie unterstütze die Menschen, die sich an dieser Art von "Gestenpolitik" beteiligen, nicht. Die Geste auszubuhen sei "offen gesagt", deren eigene Entscheidung. Und was meinte ihr Chef, Boris Johnson? Selbstverständlich kam auch von ihm keine klare Unterstützung fürs Knien.

England erntet, was es gesät hat

All das macht deutlich, dass es weite Teile Englands immer noch nicht verstanden haben. Da können Spieler und Vereine noch so viele plakative Aktionen gegen Rassismus starten, sie bleiben ineffektiv, solange nicht endlich durchgegriffen wird – mit Stadionverboten für Rassisten und für prügelnde Fans, mit kompromissloser strafrechtlicher Verfolgung von Hass-Kommentatoren im Netz, mit Verstetigung von Präventionsprojekten. Solange an diesen Stellschrauben nicht gedreht wird, kann England niemals ein würdiger Titelträger sein.

Die hässlichen Szenen bei dieser EM sind letztlich auch eine Folge der jüngsten englischen Politik. England erntet, was es gesät hat. Konservative und Rechtspopulisten haben den Brexit herbeigeführt, und der wirkt sich eben nicht nur auf Politik und Wirtschaft aus.

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union glückte einzig und allein wegen des nationalistischen Überschwangs, den Parteien wie die UKIP um Nigel Farage, aber auch die Erben der rechtsextremen BNP einerseits und große Teilen der Tories andererseits genährt haben. Wer heute Ausländern auf englischen Straßen feindselig gegenübertritt, hält sich in Fußballstadien gewiss nicht zurück.

Er ist kein Zauberlehrling

Inzwischen hat die Staatsführung auf die rassistischen Ausfälle reagiert. Die FA, Boris Johnson, Prinz William und viele andere meldeten sich zu Wort – Prinz William, gemessen an seiner Funktion, sogar ungewöhnlich deutlich. Das ist gut, reicht aber nicht.

Hier ist die Königin höchstselbst gefordert. Wenn sie sich vor dem Finale persönlich an die Mannschaft wenden kann, sollte sie im Nachhinein nicht schweigen. Boris Johnsons Worte lassen sich nach den Vorgeschichten nur als naiv oder scheinheilig bewerten. Er kann nicht den nationalistischen Geist anrufen, und sich dann beschweren, dass er ihn nun nicht mehr los wird. Er ist kein Zauberlehrling.

Was jeder Einzelne tun kann?

Ein Regierungssprecher betonte, der Premierminister konzentriere sich eher auf "Taten als auf Gesten". Er habe zum Beispiel mit der "Commission on Racial and Ethnic Disparities" Maßnahmen ergriffen. Wenn dem so ist, kann man Boris Johnson ja nur noch an Taten messen. Seine Worte sind jedenfalls nach dieser Ansage belanglos.
Die Premier League ist die finanzstärkste Liga der Welt. Es fließen Milliarden und das insbesondere wegen ihres internationalen Rufs. Vereine zahlen Unsummen an Spieler. Auch von dort muss einfach mehr kommen.

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Dies alles lautstark einzufordern, ist die Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien! Aller Unternehmen und gesellschaftlicher Organisationen. Was jeder Einzelne tun kann? Zum Beispiel Menschen wie Joel Hughes aus Wales unterstützen, der über den Hass auf das deutsche Mädchen so schockiert war, dass er spontan eine Spendenkampagne ins Leben rief und über 40.000 Euro einsammelte, oder die ehemaligen Fußballer Gary Lineker und Stan Collymore, die gegen hasserfüllte englische Fans kein Blatt vor den Mund nehmen.

Das Internet gibt jedem Menschen dazu ein Instrument an die Hand.
Ich kann nur hoffen, dass England die Probleme endlich angeht, dann hätte die bittere Niederlage nachhaltig etwas Gutes geschaffen. Und dann kann ich bald wieder voll und ganz und ohne jeglichen Skrupel den Engländern die Daumen für einen großen Titel drücken.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

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