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Jürgen Trittin: Warum Gerhard Schröder mit seiner Grünen-Kritik irrt


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Jürgen Trittin widerspricht Altkanzler
Warum Gerhard Schröder irrt

MeinungEin Gastbeitrag von Jürgen Trittin

Aktualisiert am 06.07.2021Lesedauer: 4 Min.
Altbundeskanzler Gerhard Schröder: "Er wusste und machte es schon mal besser", schreibt Jürgen TrittinVergrößern des Bildes
Altbundeskanzler Gerhard Schröder: "Er wusste und machte es schon mal besser", schreibt Jürgen Trittin. (Quelle: imago-images-bilder)
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Der Altkanzler wirft den Grünen vor, sie wollten Deutschland de-industrialisieren. Doch als sein früherer Umweltminister muss ich Schröder antworten: Das Gegenteil ist richtig.

Manchmal muss man den Kanzler Gerhard Schröder vor dem Autor Schröder in Schutz nehmen. Da stellt er zutreffend fest, dass die CDU einen Programmentwurf ohne Modernisierungsanspruch vorgelegt hat – um dann in Formulierungen eines Friedrich Merz den Grünen vorzuhalten, die "De-Industrialisierung Deutschlands" voranzutreiben und so "Millionen Jobs zu gefährden".

Was für ein Irrtum!

Gerhard Schröder wusste und machte es schon mal besser. In seiner Amtszeit zwischen 1998 und 2005 sanken Deutschlands Treibhausgasemissionen, während sie in 10 der 16 Jahre von Angela Merkels Kanzlerschaft stagnierten. Die Kanzlerin sieht das selbst so: "Was wir bisher getan haben ist, schlichtweg nicht genug."

Schlimmer noch: Alles, was es an Fortschritt in zwölf Jahren Großer Koalition und vier Jahren Schwarz-Gelb gab, geht auf die Gesetzgebung aus der Zeit des Kanzlers Gerd Schröder zurück. Die Einführung des Emissionshandels und die Verabschiedung des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) durch Rot-Grün gegen den Widerstand von Merkels CDU zeigt bis heute Wirkung.


Der unter Schröder eingeführte Emissionshandel mit einem Preis von inzwischen über 50 Euro pro Tonne drängt heute die Kohle schneller aus dem Markt, als CDU und SPD es mit ihrem Datum 2038 wahrhaben wollen. Selbst Kraftwerke wie Moorburg und Hamm mit nur wenigen Jahren Betriebsdauer betteln bei der Bundesnetzagentur erfolgreich um Stilllegung.

Ist Schröder also für De-Industrialisierung verantwortlich? Nein. Die Steinkohle wird komplett importiert, und die noch vorhandenen Arbeitsplätze in der Braunkohle betragen keine 20.000. Statt aus importierter klimaschädlicher Kohle wird heute gut die Hälfte des genutzten Stromes aus heimischen erneuerbaren Energien von Wind und Sonne geliefert. Es handelt sich nicht um De-Industrialisierung, sondern um einen organisierten industriellen Strukturwandel – angestoßen durch die Regierung Schröder.

Durch ihr EEG entstand eine neue Industrie. Sie beschäftigt heute – noch – 250.000 Menschen. Zu besseren Zeiten waren es mal 416.000. Das kam gerade auch ländlichen Räumen zugute. Windenergie sorgt für Wertschöpfung im Emsland statt in Russland oder Saudi-Arabien. Die Windindustrie machte aus einem strukturschwachen Raum wie Ostfriesland eine Region mit überdurchschnittlicher Beschäftigung. Die Firma Enercon wurde zum größten industriellen Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt. Diese Re-Industrialisierung war Folge der Klimapolitik der Regierung Schröder.

Eine verheerende Botschaft

Für De-Industrialisierung sorgten danach die Regierungen Merkel mit ihren Koalitionspartnern SPD wie FDP. Ihre Maßnahmen zum Ausbremsen der Energiewende, vom Freiflächenverbot über Sigmar Gabriels Sonnensteuer und dem Ausbaudeckel bis hin zu Armin Laschets jüngsten Abstandsregeln in NRW, kosteten mehr als 100.000 Jobs in Deutschland. Der Windausbau an Land ist faktisch zum Stillstand gekommen.

Eine verheerende Botschaft für den Industriestandort und einstigen Technologieführer Deutschland. Inzwischen investiert China zehnmal und die USA sechsmal so viel in erneuerbare Kapazitäten wie Deutschland. Auf diesem Weltmarkt ist Deutschland weit zurückgefallen.

Heute gehen weltweit jedes Jahr mehr erneuerbare Kapazitäten ans Netz als fossile und atomare. Für diese globale Energierevolution hat die Regierung Schröder die Grundlage gelegt. Der Sondergesandte der USA für Klima, John Kerry, hat das jüngst in seinem Dank an Deutschland so formuliert: "Deutschlands bahnbrechendes EEG-Gesetz zu Beginn des 21. Jahrhunderts löste einen Boom bei Solar- und Windenergie für die nächsten zwei Jahrzehnte aus, und indem es einen Premiumpreis für erneuerbare Energien garantierte, schuf Deutschland einen frühen Markt für aufstrebende Technologien, der inzwischen auf der ganzen Welt floriert."

Als Bremer ist mir solches Lob eher peinlich. Aber schämen muss sich Gerhard Schröder dafür nicht. Zumal wir diese Technologie für die Dekarbonisierung unserer Energie und unserer Industrie dringend brauchen. Nur Erneuerbare können schnell und kostengünstig jene riesigen zusätzlichen Strommengen liefern, die wir für E-Autos, E-LKWs, Wärmepumpen, für die Elektrolyse von Wasserstoff für die Stahl- und Chemieindustrie wie für den Luftverkehr brauchen.

Jürgen Trittin, 66, ist Bundestagsabgeordneter für die Grünen und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Er war zunächst Abgeordneter und Minister in Niedersachsen und sitzt seit 1998 im Bundestag. Von 1998 bis 2005 war Trittin Umweltminister in der rot-grünen Bundesregierung.

Ja, es gibt einen Zusammenhang zwischen Jobs und Klimaschutz. Verpasste Innovationen kosten Arbeitsplätze. Wo wären wir, wenn Deutschlands Autoindustrie bereits vor zehn Jahren wie Tesla auf Elektromobilität gesetzt hätte, statt auf den Diesel für die USA, China und Indien zu wetten? Viele heute befürchtete Arbeitsplatzverluste gerade bei den Zulieferern hätten vermieden werden können.

Doch in ihrer Aufholjagd ist die Autoindustrie vielen Politikern weit voraus. Während Verkehrsminister Andreas Scheuer noch den Verbrennungsmotor retten will, FDP-Chef Christian Lindner von alternativen Kraftstoffen träumt und Schröder den Grünen "überzogenen Klimaschutz" vorwirft, weil sie ab 2030 alle fossilen Verbrennungsmotoren verbieten wollen, verkünden Audi und VW, nach 2026 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr anzubieten.

Ohne Klimaschutz ist alles nichts

Gerhard Schröder hat recht. Klimaschutz ist nicht alles. Deshalb haben die Grünen ein Zehn-Jahres-Programm über 500 Milliarden für Investitionen in Klima, Digitalisierung, Infrastruktur und Bildung vorgeschlagen, das die meisten von Schröders Forderungen abdeckt.
Wir brauchen ein solches Investitionsprogramm, doch solche Investitionen dürfen den fossilen Lock-in nicht verlängern. Deshalb erfordert die Dekarbonisierung Europas vor 2045 eine neue industrielle Revolution.

Klimaschutz ist nicht alles – aber ohne Klimaschutz ist alles nichts. An diesem Grundsatz richten immer mehr Investoren ihre Geschäftsmodell aus. Vom Vermögensverwalter Blackrock bis zum Versicherer Allianz macht sich Zurückhaltung bei Investitionen in fossile Anlagen breit. Die Internationale Energieagentur fordert einen sofortigen Stopp von Investitionen in fossile Infrastruktur.

Eine erfolgreiche Dekarbonisierung gefährdet das Geschäftsmodell großer Öl- und Gaskonzerne, von Exxon über Aramco bis zu Rosneft. Sie haben Grund, vor "überzogenem Klimaschutz" zu warnen, denn ihr Geschäftsmodell ist dann sehr endlich.

Deutschland und Europa aber haben keinen Grund, diesen Strukturwandel zu bremsen. Die Dekarbonisierung dient unserer Zukunftsfähigkeit. Klimaschutz verlagert Wertschöpfung nach Europa und schafft neue Jobs. Klimaschutz stärkt Europas strategische Souveränität.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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