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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Karl Lauterbach "Ich glaube, die große Zeit der Pandemie ist vorbei"
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht Deutschland in der Corona-Pandemie auf einem guten Weg. Dringend müssten aber nun die Impfzögerer überzeugt werden. Sonst drohe ein komplizierter Herbst.
t-online: Herr Lauterbach, nach schnellen Erfolgen sinkt in den USA die Impfgeschwindigkeit. Die Regierung hat sich vom Ziel der sogenannten Herdenimmunität verabschiedet. Überrascht Sie das?
Karl Lauterbach: Die Herdenimmunität ist ein theoretisches Konstrukt. Sie meint einen Zeitpunkt, an dem das exponentielle Wachstum der Infektionen zu Ende ist und es zu einem Gleichgewicht kommt zwischen Infizierten und nicht Infizierten. Man war davon ausgegangen, dass die Infektionen irgendwann aussterben. Aber es wurde zu wenig beachtet, dass es darauf ankommt, wie gut ein Virus überleben kann in der Gruppe der Noch-nicht-Geimpften, beziehungsweise der Noch-nicht-Infizierten.
Und SARS-CoV-2 kann besser überleben als gedacht?
Ja, es ist davon auszugehen, dass es eine Herdenimmunität in dem Sinne, dass das Virus quasi ausstirbt, gar nicht gibt. Covid-19 wird überleben. Wegen der Mutationen müssen wir inzwischen ohnehin davon ausgehen, dass wir statt der ursprünglich angenommenen, notwendigen 60 oder 70 Prozent an Immunisierten vielmehr 80 Prozent benötigen, um ein signifikantes Absinken der Infektionszahlen zu erreichen. Selbst dann wird sich das Virus weiter langsam ausbreiten – eben bei den 20 Prozent, die noch nicht immunisiert sind. Die Pandemie läuft also immer weiter in dieser kleinen Gruppe...
...und fördert neue Mutationen zutage?
Genau, auf diese Weise kommt eine andauernde, neue Aufgabe auf uns zu. Denn die ersten werden dann schon wieder ihren erworbenen Impfschutz verlieren. Das ist auch der Grund, weshalb die Amerikaner das Konzept der Herdenimmunität aufgegeben haben. Zum einen glaubt man nicht, dass man die 80 Prozent der Bevölkerung über das Impfen noch erreichen kann. Zum anderen will man nicht ein Missverständnis schüren, dass die restlichen 20 Prozent oder 30 Prozent der Nicht-Geimpften die Infektionen quasi gratis überstehen, also ohne Risiko.
Warum ist ein hohe Impfquote wichtig, auch wenn keine Herdenimmunität erreicht werden kann?
Je höher der Anteil derer, die nicht immunisiert sind, desto schneller und größer werden die Probleme für alle im Herbst wieder sein. Wir müssen uns vor allem darauf konzentrieren, jene zu gewinnen, die die höchsten Risiken tragen. Ob das Alte sind oder junge Menschen mit Erkrankungen wie Diabetes. Die Gruppe der Geimpften wird langfristig hoffentlich noch größer, wenn es auch Impfstoffe für Kinder auch unter 12 Jahren geben wird.
Das klingt ernüchternd. Über Monate war der Eindruck entstanden, wir müssten nur eine bestimmte Impfquote erreichen und die Normalität hat uns wieder. Ist das dieses: Wir werden mit dem Virus leben lernen müssen?
Die Erkenntnis ist ja nicht neu. In Fachkreisen gibt es sie schon eine ganze Weile. Ich habe es auch immer wieder so vorgetragen und darauf hingewiesen, dass das ein Missverständnis ist. Was wir im Herbst in Deutschland zu erwarten haben, falls tatsächlich 20 bis 30 Prozent nicht geimpft werden sein sollten, erfüllt mich schon mit Sorge.
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In den USA hängt die inzwischen mäßige Impfbereitschaft laut Umfragen einerseits mit der politischen Einstellung zusammen. Viele Anhänger der Republikaner sind grundsätzlich staatskritisch eingestellt. Andererseits hat auch das soziale Herkunft Einfluss auf die Bereitschaft. Müssen wir in Deutschland auch damit rechnen?
Grundsätzlich ist das Vertrauen in den Impfstoff als Problemlöser schon massiv gewachsen. Auch weil mit immer mehr Impfungen immer weniger Lockdown notwendig sein wird. Das ist gut, denn die Impfbereitschaft in Deutschland ist, wie bei der Diskussion um Masern, sonst auch nicht sehr hoch. Das wird dieses Mal anders sein und ich denke, wir werden das nicht so stark erleben wie in den USA. Aber auch wir werden uns stärker bemühen müssen.
Ob bestimmte Regionen, ob bestimmte soziale oder religiöse Gruppen – wie in den USA werden auch wir immer wieder mit lokalen Covid-19-Ausbrüchen rechnen müssen. Wie soll das überwacht werden?
Das ist in der Tat ein Problem. Wir wissen, dass bestimmte Gruppen in der Bevölkerung schwerer zu erreichen sind. Das sind oft Menschen mit Migrationshintergrund. Aber längst nicht nur. In den neuen Bundesländern sieht man, dass es dort aus anderen Gründen ähnliche Probleme gibt. Dort gibt es in Teilen einen skeptischen Blick auf den Staat. Weil das insgesamt ein sehr sensibles Thema ist, muss man mit Geschick und Fingerspitzengefühl vorgehen.
In den USA bekommen die Leute teilweise kostenlose Führerscheine oder Burger-Menüs, wenn sie sich impfen lassen. Sind das hilflose Versuche oder könnte so etwas auch hier funktionieren?
Anreize wie Geschenke für Geimpfte sind nicht angemessen. Wir müssen die Menschen vom Wert der Impfung überzeugen. Und nicht mit billigen Tricks arbeiten. Ich glaube, dass die Impfbereitschaft zunehmen wird, weil die Menschen sehen, dass der Wert der Impfung unmittelbar spürbar ist.
Was fordern Sie dafür?
Wir brauchen entsprechende Impfkampagnen, nicht unbedingt von Politikern, sondern von Führungspersönlichkeiten, die in den jeweiligen Gemeinschaften Vertrauen genießen. Wir müssen die Leute damit gewinnen: Es geht nicht nur um einen Dienst an der Gemeinschaft, sondern in erster Linie um die Menschen selbst.
Zumal es gesellschaftliche Gruppen gibt, die von Covid-19-Infektionen viel stärker betroffen waren als andere.
Ja, auch jetzt noch spiegelt sich dieses Bild auf den Intensivstationen. Bestimmte Gruppen sind dort deutlich überproportional vertreten. Wie gesagt, wir müssen da mit Fingerspitzengefühl herangehen. Aber wir müssen unbedingt etwas unternehmen. Wir können nicht sagen, die Pandemie ist für uns, die Impfwillingen, beendet und für die anderen eben nicht.
Muss stärker differenziert werden zwischen Impfverweigerern und Impfzögerern?
Ja, dieses Problem sehe ich. Harte Verweigerer erreicht man tatsächlich nicht. Aber wir dürfen es uns nicht zu einfach machen, indem wir Impfverunsicherte in die gleiche Ecke stellen. Denn die kann man gut erreichen, aber man muss eben etwas dafür tun.
Ist die Politik trotz jetziger Impferfolge und Lockerungen darauf vorbereitet, dass es immer wieder lokale Ausbrüche geben wird – ob in einzelnen Regionen oder in bestimmten Communities in den Städten. Brauchen wir nicht spätestens dann kontrollierte, harte, zeitlich und lokal begrenzte Lockdowns?
Darüber zu spekulieren, würde zum jetzigen Zeitpunkt sehr verunsichern. Aber wir sehen etwa in Singapur, dass in solchen Fällen sehr schnell reagiert wird. Ich glaube, dass solche schnellen, harten Reaktionen uns sehr viel helfen könnten.
Aber es wäre gut, wenn Konzepte für den Herbst nicht erst dann erdacht und diskutiert werden, sondern dann auch fertig sind.
Wir werden im Herbst auf jeden Fall wieder eine komplizierte Situation haben. Es wird Menschen geben, deren Immunität wieder verloren geht, dazu das umschlagende Wetter und auch wieder neue Mutationen. Dass uns das Problem, zumindest auf Sparflamme, noch eine ganze Zeit begleiten wird, ist leider so. Aber ich glaube trotzdem, dass die große Zeit der Pandemie vorbei ist. Gott sei Dank. Es geht jetzt darum, die Gesellschaft zu heilen.
- Telefon-Interview mit Karl Lauterbach (SPD)