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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zahlen nachträglich korrigiert Tausende Corona-Tote wurden 2020 nicht gezählt
Im Jahr 2020 sind deutlich mehr Menschen an und mit Corona gestorben, als in der Öffentlichkeit bekannt ist. Selbst Todesfälle vom Beginn der zweiten Welle im frühen November gehen jetzt noch in die Statistik ein.
Als das RKI seinen letzten täglichen Lagebericht für 2020 zur Corona-Pandemie herausgab, stand dort eine Zahl: 33.071 Verstorbene. Heute ist klar: Damals waren bereits 8.000 mehr Menschen an und mit dem Virus gestorben. Diese Toten, die in diesem Jahr gemeldet wurden, sind tatsächlich bereits im Jahr 2020 gestorben.
Wer heute nach der Zahl der Toten im Jahr 2020 googelt, stößt als erstes auf Medienberichte mit einer Zahl, die schon deutlich höher ist als die aus dem täglichen Report: 39.201. Diesen Wert hatte das Statistische Bundesamt Ende Januar in einer Sonderauswertung zur Übersterblichkeit herausgegeben. Sie stützte sich auf den aktuellen wöchentlichen Lagebericht des Robert Koch-Instituts, der mit einer Sicherheitsfrist von drei Wochen "relative Vollständigkeit" der Zahl der Todesfälle gewährleisten soll.
Jeder zweite Todesfall umgehend beim RKI
Die Statistik ändert sich rückwirkend durch Informationen, die nachträglich aus den Ländern ans RKI fließen. Melde- und tatsächliches Sterbedatum der Corona-Toten können Monate auseinander liegen. t-online hat diese Daten in Relation gesetzt.
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Es kann auch schnell für die Statistiker gehen, wenn ein Mensch in Deutschland an Corona stirbt: Bei etwa jedem zweiten Sterbefall mit Corona landet die Information bereits am nächsten Tag beim RKI, teilt die Behörde mit. Doch: "Bei einem gewissen Anteil der Fälle, der jedoch großen Schwankungen unterliegt, liegt diese Information erst zehn Tage oder noch später am RKI vor." Wenn ein Toter dem RKI gemeldet wird, kann er auch schon vor Wochen gestorben sein. Und die Information zum Sterbedatum kann noch lange nach der Meldung des Todes beim RKI eingehen.
Bei 2.000 Todesfällen, also etwa jedem 20., dauerte es bis in den Februar, März oder sogar Mai, bis sie dem Jahr 2020 zugeordnet wurden. Inzwischen liegt die Zahl der laborbestätigten Corona-Toten im Jahr 2020 bei 41.240 – und wird sich noch weiter leicht erhöhen.
Im Mai drei Fälle von Anfang November
So stieg mit der jüngsten wöchentlichen RKI-Veröffentlichung am 7. Mai die Zahl der Corona-Toten des Jahres 2020 noch einmal um 48. Die jetzt nachgetragenen Fälle reichen zurück bis Anfang November: So sind für die Woche vom 2. bis 8. November genau ein halbes Jahr später noch drei Corona-Tote in die Statistik eingegangen. Das bedeutet nicht, dass diese Toten nicht zwischenzeitlich vom RKI schon in Tagesberichten gemeldet wurden, sondern dass erst jetzt klar wurde, dass sie bereits Anfang November gestorben sind.
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Für zeitnahe Auswertungen wie eine Übersterblichkeit in einer Pandemie sei zeitlicher Verzug ein Nachteil, sagt Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BVÖGD) zu t-online.
Söders täglichen "Flugzeugabsturz" gab es früher
In der Praxis bedeutete das: Zunächst zeigten die täglichen Meldezahlen zu den Toten der zweiten Welle gar nicht die ganze Dramatik. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder rüttelte beim Bund-Länder-Gipfel am 25. November mit einem Vergleich auf: Es würden täglich rund 300 Corona-Tote pro Tag gezählt, das sei, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen.
Mit den Daten von heute ist klar: Söder hätte das schon eine Woche vorher sagen können: In der 47. Woche starben nicht wie damals bekannt 1.537 Menschen, die in den Tagesberichten neu gemeldet wurden, sondern mindestens 2.108 – also 300 pro Tag.
Eine der Ursachen für die unvollständigen Daten liefert Teichert: "In Todesbescheinigungen wird lediglich das Grundleiden ausgewertet – wenn dort Herzinsuffizienz oder Diabetes stand, kann ein Mensch dennoch durch und mit einer Covid-Infektion verstorben sein." Erst die genauere Auswertung für den Infektionsschutz ergibt, dass es sich um einen Covid-19-Fall handelt. Zudem müssen die Daten von den Gesundheitsämtern an die Landesämter für Statistik geleitet werden – "Durchschläge, in Papier". Kommt ein anderes Bundesland ins Spiel, bedeutet das zeitlichen Verzug bei der Meldungsweitergabe.
Risklayer: 100 von 400 Kreisen hinken sehr hinterher
Das RKI kann bis dahin mit dem Fall nicht arbeiten. Im besonders betroffenen Sachsen etwa haben zwar Standesämter auf dem Höhepunkt der zweiten Welle Sonderschichten eingelegt. Doch das war nicht überall so. Und Gesundheitsämter waren das Nadelöhr. Schuldzuweisungen kommen vom RKI nicht, aber eine Bestätigung: "Bei hohem Fallaufkommen und großer Belastung der Gesundheitsämter kann es sein, dass Informationen erst mit Verzug nachgetragen werden." Der Anteil der Fälle, die erst zehn Tage oder noch später beim RKI landen, unterliege "großen Schwankungen".
Guten Überblick hat auch James Daniell, Chef von Risklayer: Das Unternehmen erstellt mit einer Gruppe von Helfern wie das RKI eine Sammlung von Corona-Daten, erfragt die Angaben der Landkreise aber selbst und ist damit schneller als das RKI, das auf die verifizierte Übermittlung wartet. Daniell zu t-online: "Wir wussten, dass im Zeitraum von November bis Februar vielleicht 100 der rund 400 Kreise und kreisfreien Städte sehr hinterherhingen." Einige Gesundheitsämter seien mit ihren Meldungen fünf Tage hinterher gewesen, manche acht Tage, "manche viel mehr". Deutschland fehle ein zentrales Todesfallregister, "was in Katastrophenlagen sehr wichtig ist", so Daniell, dessen Unternehmen weltweit Risikoanalysen und Bewertungen vornimmt.
Expertin: Mit digitaler Todesbescheinigung wird's besser
Mit dem Abflauen der Welle wurden dann zum Teil deutlich mehr Fälle gemeldet, als aktuell zu dem Zeitpunkt starben – der Pandemie fielen zu dem Zeitpunkt nicht mehr so viele Menschenleben zum Opfer, wie es den Anschein hatte. Für die Perspektive in dem jeweiligen Moment ist das irreführend, das Gesamtbild wurde damit aber korrekter. "Bei validen, vergleichenden Auswertungen mit Grundleiden und Todesursache nach ICD (Statistiken) braucht es eine Prüfung und Kodierung und entsprechende Bearbeitungszeit", sagt Teichert.
Das Problem wäre aber so nicht aufgetreten, wenn Deutschland bei der Digitalisierung schneller wäre. Teichert: "Die Länder arbeiten bereits seit Längerem an einer digitalen Todesbescheinigung, die dann automatisch an alle Stellen geschickt wird, die die Daten benötigt und weiterverarbeitet." Damit sollen Daten nicht nur schneller verarbeitet werden, durch hinterlegte Plausibilitätsprüfungen sollen auch Fehler beim Ausfüllen verhindert werden.
- RKI: Täglicher Lagebericht 31. Dezember 2020
- RKI: Todesfälle nach Sterbedatum
- Destatis: Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020
- Risklayer: Corona-Dashboard