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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jugendliche in der Pandemie Debatte um Impffreiheiten: "Viele fragen: Und was wird aus uns?"
Während die Älteren erste Rechte zurückerhalten, warten Jugendliche noch auf die Impfung. Die Diskussion um Impffreiheiten sehen manche kritisch – so wie die gesamte Corona-Politik. Das hat fatale Folgen, warnt ein Soziologe.
Plötzlich geht alles ganz schnell: Im Dezember noch warnte die Politik vor einer Spaltung der Gesellschaft, jetzt kommen Freiheiten für Geimpfte. "Innerhalb von Tagen" könnten Erleichterungen beschlossen werden, kündigte Gesundheitsminister Jens Spahn am Freitag an. Mehrere Bundesländer haben erste Erleichterungen bereits auf den Weg gebracht.
Viele Ältere, die gerade die Impfzentren füllen, jubeln. Bei manchen Jüngeren, die vermutlich erst in Monaten voll geimpft sein werden, sieht die Stimmung anders aus. Befördert die Politik momentan selbst die Spaltung, vor der sie warnte?
"Das ist ungerecht", bewertet Benjamin Brühl (Name von der Redaktion geändert) die Diskussion um Impffreiheiten und das rasche Vorpreschen von Ländern wie Nordrhein-Westfalen, Berlin, Baden-Württemberg und Bayern. Brühl ist 23 Jahre alt, Student, bis vor kurzem wohnte er in einem 18 Quadratmeter großen Einzelappartement in einem Studentenwohnheim in Rheinland-Pfalz. Mehr als ein Jahr lang lernt er jetzt von zu Hause aus, meidet Kontakte. Er sieht die Notwendigkeit, lange geschlossene Bereiche wieder zu öffnen, Wirtschaft und Kultur wieder Einnahmen zu ermöglichen.
Doch Brühl kann sich auch noch zu gut an die Aussagen Ende Dezember erinnern: Da wehrte sich die Politik mit Händen und Füßen gegen Freiheiten für Geimpfte in der Privatwirtschaft. SPD und Union ließen ein Verbot der "Ungleichbehandlung" von Geimpften und Nichtgeimpften bei Fluggesellschaften und in der Gastronomie prüfen. Politiker sprachen von "Diskriminierung", Minister wie Spahn und Seehofer schlossen Vorteile für Geimpfte kategorisch aus und forderten immer wieder Solidarität.
"Die Politik bricht ihr Versprechen"
Jetzt geht es nicht mehr um "Sonderrechte", sondern um die Rückgabe von Grundrechten. Doch dass von diesen Bedenken jetzt gar nichts mehr zu hören ist, ärgert Brühl. Ein großer Teil der Bevölkerung habe noch keine Impfeinladung erhalten, nach wie vor sei erst ein einstelliger Prozentteil der Bevölkerung voll geimpft, weiterhin sei auch unklar, ob Geimpfte das Virus noch übertragen können.
"Die Politik bricht ihr Versprechen, nur weil in den älteren, größten Wählergruppen jetzt die ersten geimpft sind", sagt er. "Sie lässt die junge Generation im Stich." Bitter sei das, sagt Brühl, aber passe auch zu dieser Krise: In der Pandemie seien Studenten und Schüler zwar hart getroffen, aber nie richtig beachtet worden.
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"Viele sagen: Die jungen Leute geben ja nur das Feiern auf", sagt er. "Aber junge Menschen haben eine ganz andere Sozialstruktur." Keine Familie in der Nähe, Leben in Einzelzimmern oder kleinen Wohngemeinschaften, Kontaktverbot zu Freunden, seit Beginn der Krise kein Präsenzstudium mehr. "In der Regel sind jüngere Leute, wenn sie sich an die Regeln halten, komplett isoliert." Mehreren Freunden gehe es zurzeit psychisch nicht gut. Monatelange depressive Phasen in der Pandemie kennt auch er selbst nur zu gut.
Auch im Netz schlägt sich Kritik nieder. "Freiheiten nur für Geimpfte ist sowas von ungerecht und unfair. Viele Bürger dürfen oder können sich nicht impfen lassen, weil falsches Alter, falscher Beruf und zu gesund", heißt es da zum Beispiel auf Twitter.
Stephan Schumann ist stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD-Jugendorganisation Jusos. Er kennt diese Kritik aus seinem persönlichen Umfeld. Die Zustimmung zu mehr Freiheiten für Geimpfte überwiege dort aber, sagt der 32-Jährige – räumt allerdings auch ein, dass das daran liegen könne, dass er Jurist ist.
"Aus juristischer Sicht ist die Entscheidung klar: Es gibt einen Unterschied zwischen Privatwirtschaft und Bundesgesetzgeber. Grundrechtseinschränkungen – wie Kontaktbeschränkungen – sind rechtswidrig, wenn sie nicht mehr notwendig sind, um die Pandemie einzudämmen.“ Ja, die Jüngeren müssten länger warten, er aber gönne es den Älteren "von ganzem Herzen", wenn sie endlich wieder Kontakte haben könnten.
Soziologe Corsten: "Das ist eine fatale Entwicklung für unsere Gesellschaft"
"Die aktuelle Impfdiskussion muss auf die junge Generation irritierend wirken", sagt Michael Corsten, Soziologe an der Universität Hildesheim. "Viele fragen sich: Und was wird jetzt aus uns?" Das gelte im Übrigen auch für einen großen Teil der Gesamtbevölkerung, schließlich seien erst etwas mehr als sieben Prozent vollständig geimpft - und auch in der Gruppe der über 70-Jährigen seien längst noch nicht alle immunisiert. "Der Zeitpunkt, den die Politik für die Diskussion über ‚Impffreiheiten‘ gewählt hat, ist sonderbar und schwer nachvollziehbar."
Die Stimmen, die in der Spitzenpolitik prominent zur Zurückhaltung mahnen, lassen sich zurzeit an einer Hand abzählen. Corsten sieht die Möglichkeit, dass das eine Tendenz verstärken könnte, die sich bereits deutlich zeige: "Jugendliche fühlen sich in dieser Krise nicht von der Politik gehört." Studien zeigten einhellig, dass sich junge Menschen ohnmächtig fühlten und zunehmend das Vertrauen in politische Institutionen verlören. "Das ist eine fatale Entwicklung für unsere Gesellschaft."
Zurzeit diskutieren Universitäten, ob auch das Wintersemester ab Oktober erneut ein reines Online-Semester werden soll. Es wäre das vierte Semester in Folge, zwei volle Jahre ohne Präsenzlehre, ohne Kontakte. "Obwohl im Herbst ein großer Teil der restlichen Bevölkerung bereits durchgeimpft ist und Freiheiten genießen kann", so Corsten. Bereits jetzt spricht er mit Blick auf die schlechte Stimmung unter jungen Menschen und dem gehäuften Auftreten von depressiven Symptomen von einer "bedenklichen Entwicklung".
In den Niederlanden protestierten vor allem junge Menschen gegen die harten Einschränkungen in der Corona-Pandemie. Gegen die Ausgangssperre gab es dort teils auch gewaltsame Proteste. Die Gefahr sieht Soziologe Corsten für Deutschland trotz aller Härten für die jüngere Generation nicht. Zu sozial seien deutsche Jugendliche dafür eingestellt. "Drei Viertel der Menschen unter 30 geben in Befragungen an, dass die Rücksicht auf die ältere Generation der Grund sei, warum sie sich an die Regeln halten."
"Prosoziale" Einstellungen finde man verstärkt gerade in der jungen Altersgruppe unter 30. Erst Personen im mittleren Erwachsenenalter zwischen 40 und 55 sehen sich stärker unter Konkurrenzdruck und empfinden Rücksicht auf andere oft als Nachteil, so Corsten. Die Solidarität der Jüngeren, ist er überzeugt, werde in großen Teilen bleiben, auch wenn andere Teile der Bevölkerung früher Freiheiten zurückerhalten.
Dabei wurden Jugendliche von Politikern und Medien, oft nicht untermauert von Daten und Zahlen, in der Krise immer wieder als rücksichtslose Partygänger und Superspreader beschrieben. Besonders in der zweiten Welle im Sommer 2020 habe man jungen Erwachsenen gehäuft "die Schuld zugeschoben", sagt Corsten. "Das war und ist ungerecht. Auch damals haben Daten schon gezeigt, dass sie nicht die großen Pandemietreiber sind." Inzwischen habe sich der öffentliche Umgang gebessert, es werde seltener nach Schuldigen für die dank überlasteter Ämter nur schwer nachvollziehbaren Infektionsketten gesucht.
Im Februar noch lehnten 68 Prozent der Bundesbürger mehr Freiheiten für Geimpfte – zum Beispiel beim Reisen und im Alltag – ab. 28 Prozent waren dafür. Inzwischen hat sich die Stimmung geändert: In einer aktuellen YouGov-Umfrage befürworten nun mit 56 Prozent knapp mehr als die Hälfte Freiheiten für vollständig Geimpfte, 36 Prozent lehnen sie "eher" oder "voll und ganz" ab. Acht Prozent machten keine Angaben.
Skepsis gegenüber CDU und SPD wächst
Die Politik aber muss sich wohl auf Folgen einstellen. Nach der Klimakrise ist die Corona-Pandemie die zweite große Krise, in der sie die Jugendlichen stiefmütterlich behandelt, in der sich Jugendliche im politischen Diskurs oft nicht wiederfinden. "Die Skepsis gegenüber den etablierten Parteien wächst, besonders gegenüber der großen Koalition aus CDU und SPD", sagt Corsten.
Während die Älteren auch mal stärker in Richtung Rechtspopulismus kippen, wenn der Politikverdruss hoch ist, ist das von der jüngeren Generation nicht zu erwarten. Befragungen zeigten deutlich: Erstwähler und Wähler unter 30 werden im Herbst ihr Kreuz verstärkt bei den Grünen setzen, so Corsten. Der Grund, dass sie nicht rechts wählen, ist auch hier – kurz gefasst – dass die Jüngeren sozialer, empathischer sind. Corsten: "Inklusion, Gleichberechtigung und Respekt sind für junge Menschen starke Orientierungspunkte. Da hat der Rechtspopulismus keine Chance."
Auch Brühl wird im Herbst wählen. Er hat eigentlich einfache Wünsche an die Politik: rationale Entscheidungen, transparente Kommunikation, konsequentes Handeln. Doch das sei wohl kaum noch zu erwarten, seufzt er. Besonders wenn diese wichtige Wahl bevorstehe.
- Gespräch mit Benjamin Brühl
- Telefonat mit Michael Corsten