Experten zu Modellversuchen "Zum Scheitern verurteilte Kamikaze-Experimente"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sie lehnen Modellversuche nicht grundsätzlich ab, sind aber entsetzt über die geplanten Öffnungen. Sie wollen eine differenziertere Betrachtung der Corona-Inzidenz, kritisieren aber Manipulationen: Experten der Initiative NoCovid erklären, wie es aus ihrer Sicht in der Krise weitergehen sollte.
Die Politik redet nur noch von einer 100er-Inzidenz, ab der strikte Maßnahmen gelten sollen. Trotzdem werben Wissenschaftler der Initiative "NoCovid" weiter für eine noch ambitioniertere Strategie: Möglichst niedrige Zahlen sind das Ziel. Im Interview erklären drei Mitglieder der interdisziplinären Gruppe, was ihnen Hoffnung macht – und was sie befürchten, wenn Kanzlerin und Ministerpräsidenten nicht endlich durchgreifen.
t-online: Jetzt soll – dieses Mal wirklich – bei einer Inzidenz von 100 die Notbremse greifen. Sie erleichtert die Krisenreaktion wahrscheinlich trotzdem nicht, oder?
Matthias Schneider: Die Idee, bei hohen Inzidenzen die Infektionen zu stabilisieren, ist wissenschaftlicher Schwachsinn. Bei diesem Virus kann man nur bei niedrigen Zahlen die Kontrolle behalten. Das ist ein physikalisches Grundgesetz. Dass 50 noch zu hoch ist, um das Virus zu kontrollieren, haben wir schon vor den ansteckenderen neuen Varianten gesehen. Nun diese 100 auch noch als Grenzwert für Modellversuche anzusetzen, ist fast Comedy.
Matthias F. Schneider (*1971) leitet die Abteilung Medizinische und Biologische Physik an der TU Dortmund. Der Professor beschäftigt sich mit der Physik lebender Systeme. Bereits 2020 hat er in der "Zeit" appelliert: "Wir können Corona noch stoppen". Er ist einer der Initiatoren von NoCovid und arbeitet international bei der Initiative endcoronavirus.org mit.
Und von Modellversuchen gibt es immer mehr.
Denise Feldner: Die brauchen wir grundsätzlich auch! Wir müssen Konzepte in Handlungen übersetzen, die es ermöglichen, Schulen wie Geschäfte auf lange Sicht offen halten zu können. Das ist das, was wir alle wollen. Damit auf lokaler Ebene zu beginnen, ist eine Forderung von uns. Als solche Dinge anliefen, haben Landesregierungen mit zu pauschalen Antworten solche kleinteiligen Aktivitäten blockiert.
Jetzt nicht mehr.
Feldner: Die Ministerpräsidenten haben gemerkt, dass sie Modellversuche politisch nutzen können, um die Öffnungsagenda voranzutreiben. Es werden Dinge durchgedrückt, die aber keine ganzheitliche Grundlage haben. Wir halten diese Grundlage für die Bewältigung dieser extrem komplexen Risikolage für zwingend notwendig. So ist aus unserer Idee von Niedriginzidenzmodellen eine Vorlage für unkontrolliertes Öffnen geworden.
Was ist der Unterschied?
Feldner: Unsere Piloten basieren auf dem Denkmodell der Grünen Zonen. Das sind Gebiete mit niedrigen Inzidenzen, bei denen wir wissen, woher die Infektionen kommen. Wir sind da in der Lage, die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Nachhaltig öffnen geht daher, wenn man auf einem Niveau einsteigt, wo die Herausforderungen relativ gering sind im Vergleich zur Öffnung bei einer Inzidenz von 100. Da ist das System außer Kontrolle und jeder Versuch, das Geschehen zu steuern, eigentlich untauglich. Die sozialen Kosten steigen also zwangsweise.
Maximilian Mayer: Modellversuche wie im Saarland erscheinen mir als Kamikaze-Experimente, die zum Scheitern verurteilt sind. In Tübingen etwa wurde zwar schon viel weitergedacht, aber auch ohne ganzheitliches System. Besonders die Komponente der Kontaktnachverfolgung müsste dort noch optimiert werden. Aber Tübingen hat reagiert in der Erkenntnis, bei immer höheren Inzidenzen nicht einfach weitermachen zu können.
Denise Feldner ist Wirtschaftsjuristin mit Fokus auf Technologierecht. Sie wirkt als Innovationsmanagerin und Beraterin für digitale Technologien. Seit März 2020 berät sie Politiker und Unternehmer im Krisen- und Pandemiemanagement. Sie ist Mitglied im Strategischen Beirat für das Pandemiemanagement im Nationalen Netzwerk der Universitätsmedizinen.
Da sind Auswärtige vom Modellversuch nun ausgenommen, und die Außengastronomie ist wieder geschlossen.
Mayer: Tübingen hat wie Rostock mit dem breiten Testen früher angefangen und ist nun eine Lernschleife voraus. Trotzdem entstehen jetzt gerade viele ungeprüfte Kopien von Tübingen, ohne die Lehren aus dem Modellversuch zu ziehen. Wie die Kommunen kollektiv lernen, bleibt leider noch zu unkoordiniert. Boris Palmer könnte seinen Kollegen sagen, was sie anders planen und besser machen könnten.
Was denn?
Schneider: Die Komponenten waren gut. Es genügt aber nicht, mit einem Bauchladen voller Schnelltests durch die Stadt zu laufen und zu sagen, macht mal einen Test, dann könnt ihr wieder in die Kneipen gehen. Mit Testen in der Form dort lässt sich bestenfalls ein Deckel darauf halten, aber man kommt nicht runter. Kleine Zahlen sind besser in jeder Hinsicht, und das Konzept hat Tübingen nicht.
Mayer: Tübingen hat sich bisher nicht zum Ziel gesetzt, die Inzidenzen systematisch weiter nach unten zu drücken. Auch die Diskussion zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf Bundesebene legt nahe, dass Politiker offenbar die Pandemie gar nicht beenden wollen. Mit einem Indikator wie die Belegung der Intensivbetten können wir unmöglich vor das Virus kommen.
Überlastung in Kliniken wurde zunehmend als Kriterium genannt.
Mayer: Krankenhäuser bis zum Anschlag füllen zu wollen, ist nicht nur äußerst zynisch und zerstört die ethische Grundlage der Demokratie, sondern ist auch deshalb nicht sinnvoll, weil diese Zahlen hinterherhinken. Selbst die Inzidenzen bilden das Geschehen verzögert ab, weil die Meldungen nicht schneller erfolgen. Das Pandemie-Management dann an der Inzidenz 100 auszurichten, brächte uns in den ewigen Jo-Jo-Lockdown.
Wir müssen schneller testen?
Mayer: Wir haben noch gar nicht richtig damit angefangen! Wir müssten, um die Welle zu brechen, jede Woche eigentlich sogar 20, 30 Millionen Tests durchführen, also in viel größerem Umfang testen. Und gleichzeitig muss kommuniziert werden, was so erreicht werden soll.
Erst mal gehen die Zahlen hoch.
Mayer: Niemals so weit, wie oft behauptet wird, weil wir bereits einen Schwerpunkt auf der Testung von Verdachtsfällen setzen. Gute Kommunikation sollte hier mit Missverständnissen aufräumen. Mehr Testen führt zur Senkung der Dunkelziffer und damit mehr Fällen. Dieses erwartbare Szenario muss deutlich gemacht und erklärt werden. Heute werden steigende Zahlen durch mehr Tests allerdings als Grund genannt, weniger zu testen. Dabei ist es essenziell, ein hohes Testvolumen mehrere Wochen aufrechtzuerhalten, damit die Inzidenzen wirklich nachhaltig nach unten gehen.
Maximilian Mayer ist Junior-Professor für Internationale Beziehungen und globale Technologiepolitik an der Uni Bonn. Er kehrte in der ersten Phase der Coronakrise nach fünf Jahren aus China zurück, wo er Assistenzprofessor war. Im März 2020 lud ihn das Bundesinnenministerium in ein Beratungsgremium zum Umgang mit der Coronakrise.
Haben Sie denn einen Entscheidungsträger gefunden, der wie Sie denkt und NoCovid anstrebt?
Feldner: Auf lokaler Ebene habe ich mit Landräten und Bürgermeistern, aber auch mit Hoteliers und Leitern von Kliniken gesprochen, die das gerne wollen. Die sind auf uns zugekommen, ob wir ihnen bei der Umsetzung helfen können. Bei uns erarbeiten seit einem Jahr Mediziner, Ökonomen, Psychologen, Physiker, Juristen und Politikwissenschaftler sowie Managementexperten interdisziplinär Lösungen, die lokal helfen können.
Aber Landrat oder OB stehen im Regen, wenn der Ministerpräsident mit Öffnungen bei einer Inzidenz von 100 eine ganz andere Strategie verfolgt.
Feldner: Das erleben wir. Aber es gibt auch lokale Entscheidungsträger, die über Allgemeinverfügungen Maßnahmen umgesetzt haben, die von Landesseite so nicht vorgesehen waren. Da gab es mutige Bürgermeister und Landräte, die weitergedacht und beispielsweise Kitas länger geschlossen gehalten haben, um die Virusverbreitung dort zu reduzieren, oder selbst entschieden haben, mehr zu testen. Gleichzeitig sind sie davon abhängig, dass das Land ihnen den Handlungsraum erweitert und Experimentierklauseln einsetzt.
Zum Teil haben Kommunen den Freiraum für Experimente im kreativen Umgang mit Zahlen.
Mayer: Sobald es Stufenpläne gibt und sich damit Zahlen manipulieren lassen, werden einzelne Akteure dies auch versuchen. Das ist ein weiterer Grund, warum es wichtig ist, in Richtung Null zu gehen: Sie ist unmissverständlich. Politisch wirkt diese Zielsetzung wie eine Weggabelung. Sobald man sich dafür entschieden hat, wird die Datenmanipulation weniger und alle Maßnahmen werden automatisch gerichteter sein, wie die Erfahrungen aus Australien zeigen.
Aber aktuell ist die 100 eine magische Zahl.
Mayer: Und die Tricksereien könnten damit noch schlimmer werden. So ein "Statistikproblem" kennen wir eigentlich bisher eher aus autoritären Ländern wie China. Jetzt könnten Manipulationen von Infektionszahlen europaweit zum Problem werden. Und in Ländern, in denen ein Durchseuchungskurs gefahren wird, sind die Regierungen selbst dazu übergegangen, Fake News zu verbreiten.
Ein harter Vorwurf.
Keine demokratische Regierung kann sich im Amt halten, die offen zugibt, dass sie die Durchseuchung ihrer Bevölkerung zum Programm erhebt und dadurch auch für hohe Übersterblichkeit sowie unzählige Long-Covid-Erkrankungen direkt verantwortlich gemacht werden kann.
Sie haben noch nicht klar beantwortet, ob Sie noch die Hoffnung haben, dass ein Entscheidungsträger umschwenkt. Die haben Sie aufgegeben?
Feldner: Ich schließe es nicht völlig aus. Mit Bayerns ehrgeizigem Ministerpräsidenten Markus Söder gibt es jemanden, der das politische Potenzial des Konzepts erkannt hat, aber dafür keine ausreichende Unterstützung unter seinen Kollegen gesehen hat. Die Frage ist, wie man in der Politik den Punkt erreichen kann, an dem einer auch die Verantwortung für eine mutige Entscheidung übernimmt.
Und wie?
Feldner: Es ist klar, dass solche Entscheidungen Risiken in sich bergen und auch immer eine andere Entscheidung möglich ist. In einer Krise führt das fast zwangsläufig zu hohen sozialen Kosten. Die demokratische Legitimität der Entscheidung kann im Nachgang also leicht in Frage gestellt werden. Ich denke, genau dieses Risiko fürchten viele Politiker, insbesondere im Superwahljahr 2021.
Wie wollen Sie denn dann den Punkt erreichen?
Feldner: Ich glaube ganz fest an die Verantwortlichen, die vor Ort Konzepte implementieren, die Beispiele geben, die zu einem Umschwung und mehr Freiheit führen können. Die Umsetzung sollte nicht mehr so schwer sein, Deutschland hat es auch in einer atemberaubenden Geschwindigkeit geschafft, Instrumente wie den ersten PCR-Test für Covid-19 und einen Impfstoff herzustellen.
Schneider: Deshalb stecken wir viel Energie rein, mal eine grüne Zone zu schaffen. Wir haben in Tübingen und Rostock gesehen: Es wird darüber gesprochen, wenn es etwas gibt, was Hoffnung macht. Wenn etwas käme, was besser funktioniert als dort, dann würde nicht mehr über Tübingen gesprochen, sondern über das noch bessere Modell.
Feldner: Wenn man sieht, dass es bei anderen gut läuft, passt sich das Verhaltensmuster vieler Menschen automatisch an. Menschen orientieren sich an Fortschritten, wenn sie darin die Chance sehen, selbst auch wieder freier oder besser leben zu können. Je mehr Grüne Zonen sich also etablieren, umso mehr positive Erfahrungen gemacht werden, desto wird es Nachahmer geben.
Wie weit sind wir denn davon weg, dass Kreise das erreichen könnten?
Schneider: Was exponentiell steigen kann, kann auch wieder exponentiell zurückgehen, gerade haben wir das bei Portugal gesehen. Und wir haben noch Dutzende Kreise mit einer Inzidenz von um die 70. Da müsste man mit den Gesundheitsämtern reden, wie viel davon sie exakt zurückverfolgen können. Da könnte die Risikoinzidenz nahe 35 liegen, und bei denen ist das Licht am Ende des Tunnels sichtbar.
Zwei Fragen: Das sind aber Landkreise, die vor zwei Wochen noch deutlich besser lagen.
Mayer: Ja, fast alle bewegen sich im Moment in die falsche Richtung.
Und was meinen Sie mit einer Risikoinzidenz von 35 bei einer Inzidenz von 70?
Schneider: Wir unterscheiden da. Aus einer Analyse in Köln wissen wir, dass bei bis zu 50 Prozent der Fälle die Übertragung ungeklärt ist. Bei den anderen Fällen ist die Infektionskette unterbrochen, weil alle informiert und isoliert sind. Die sind kein Risiko mehr, die können aus der Zahl rausgenommen werden, und es bleibt die Risikoinzidenz.
Fälle rausrechnen? Das wird Kommunen von Bürgern oft als Trickserei vorgehalten.
Schneider: Das kann absolut legitim sein. Wenn ich Risikoinzidenz heranziehe, um mit höheren Inzidenzen zu leben, dann ist es Selbstbetrug. Aber wieso soll eine Kita zumachen, wenn eine Fußballmannschaft im Hotel in Quarantäne ist? Die stellt doch dann kein Risiko dar.
In Grünen Zonen kann es also weiter Fälle geben?
Schneider: Wichtig ist die Risikoinzidenz, die bei null liegen muss. Die Inzidenz kann immer noch bei 10 oder 15 liegen – Fälle, bei denen der Ansteckungsweg klar und die Infektionskette abgeschnitten ist. Aber das Ziel sollte immer Null Fälle sein. Ich dulde auch auf meinem Kopf keine bestimmte Zahl Läuse maximal, ich will gar keine haben. Und wenn ich eine finde, dann drauf.
So konsequentes Vorgehen setzt aber etwa auch Quarantänehotels voraus, worüber in Deutschland kaum gesprochen wird.
Mayer: Derartige Angebote haben wir schon vor einem Jahr vorgeschlagen ...
... als Sie einer der Autoren des Strategiepapiers "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen" für das Bundesinnenministerium waren und auch auf Erfahrungen aus Wuhan verwiesen hatten.
Mayer: Wir haben uns damals sehr genau angesehen, was in China, Taiwan und Südkorea passierte, und welche Maßnahmen dort in der frühen Phase der Pandemie ergriffen worden sind. Die vielleicht wichtigste Einsicht, die sich für mich aus den Ereignissen in Wuhan ergab, war die folgende: Wenn die Folgen von Covid-19 das Gesundheitssystem einer modernen chinesischen Großstadt kollabieren lassen können, dann kann dasselbe überall geschehen.
Sie haben in China gelebt.
Mayer: Ich hatte China im Januar 2020 verlassen, weil ich dort eine große politische Krise erwartete. Zurück in Deutschland habe ich dann schockiert festgestellt, wie unglaublich unzureichend sich Regierungen in Europa vorbereiteten, während es China nach dem Desaster in Wuhan entgegen meiner Erwartung – gelungen war, die Verbreitung des Virus zu stoppen.
China ist ein autoritärer Staat.
Mayer: Als Asienexperte sage ich: Wenn wir stärker hingeschaut hätten, mit welcher Teststrategie China, aber noch wichtiger, mit welchen antizipierenden Ansätzen Demokratien wie Südkorea und Taiwan die Pandemie erstaunlich gut gemeistert haben, hätten wir uns viel Mühsal ersparen können. Das frustriert nicht nur wegen der vielen unnötigen Toten, sondern auch angesichts der kommenden geopolitischen Auswirkungen. Europa erleidet einen großen finanziellen Verlust, aber auch von Glaubwürdigkeit und Softpower. Wir haben uns auf der Weltbühne lächerlich gemacht.
Wir sind abgekommen von der Frage nach Quarantänehotels.
Mayer: Es geht vordringlich nicht um Einreisende. Menschen und Familien in prekären Lebensverhältnissen, die sich nur schwer in ihren vier Wänden isolieren können, brauchen die Möglichkeit. Warum kommen dazu keine Vorschläge etwa von der SPD? Die Pandemie laufen zu lassen, verstärkt generell soziale Ungleichheiten, weil dies sozial Schwächere ungleich mehr und härter trifft. Der Eindruck entsteht, dass wir so Sozialdarwinismus gesellschaftlich den Boden bereiten und die Haltung geradezu als vermeintliche Notwendigkeit normalisieren. Warum gibt es da keinen Aufschrei?
Menschen, die Sie dabei wahrscheinlich im Auge haben, argumentieren aber sogar, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien beispielsweise bei geschlossenen Schulen am meisten leiden.
Mayer: Das ist nicht falsch, aber zu kurz gedacht. Denn bei hohen Inzidenzen befinden sich viele dieser Kinder dann doch wieder in Quarantäne. Die Frage ist doch: Wer kümmert sich um diese Kinder, und wie sind ihre Eltern geschützt, wenn ihnen der Jobverlust droht? Öffnen bei hohen Inzidenzen und ohne Sicherheitsnetz kann nicht die Antwort sein.
Weil Sie das mit einer permanenten Lockdown-Hängepartie verbinden.
Mayer: Mit gewaltigen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schäden in Europa. Es könnte sich aber noch eine ganz andere Frage stellen, die die globale Solidargemeinschaft betrifft. Länder, die nicht eliminieren, sind verantwortlich, dass es weitere Mutationen gibt, die möglicherweise die Impfwirksamkeit reduzieren könnten. Denn es ist eine bewusste politische Entscheidung, deren Risiken bekannt sind. Außerdem können wir auch nicht auf Dauer in einer zweigeteilten Welt leben.
Ein Teil mit und ein Teil ohne Corona.
Mayer: Länder mit NoCovid stellen etwa ein Viertel der Weltbevölkerung und wollen die Grenzen irgendwann wieder öffnen für Tourismus. Aber das größere Interesse wird sein, nicht die Stabilität in der Pandemie aufzugeben, die sie erreicht haben. Das hat ökonomische Auswirkungen dort, aber auch auf Europa. Der diplomatische Druck auf die Europäer dürfte zunehmen: Ob sie weiter durchseuchen und Mutationen Spielraum geben wollen oder ob sie doch auf eine Eliminierungsstrategie umschwenken. Es gibt in Deutschland zurzeit keinen Konsens über den weiteren Weg, sondern Unklarheit und Konfusion.
Mit Unverständnis über Regierungshandeln.
Mayer: Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. In den NoCovid-Ländern erleben wir einen Kohäsionsmoment, einen verstärkten gesellschaftlichen und politischen Zusammenhalt – und bei uns erlebt man Zerfaserung und Zerbröselung. Das politische System scheint zu implodieren und ist jedenfalls entscheidungsunfähig. Wenn man diesen Trend weiter in die Zukunft denkt, und Krisen wie Energieversorgung und Klimawandel mit einbezieht, dann schwächt uns das unglaublich.
Feldner: Und das ist für uns ein starker Beweggrund. Wir wollen dazu beitragen, dass diese sichtbare politische Verletzlichkeit dem Zusammenhalt der Gesellschaft nicht dauerhaft schadet. Ein gemeinschaftliches Projekt, etwas Positives zu erreichen, kann da Unglaubliches bewirken. Und da kann es auch europäisch den Nachahmereffekt geben, wenn Deutschland seiner Rolle in Europa gerecht wird.
Schneider: Wissenschaftler aus anderen europäischen Ländern sagen mir, dass sie es extrem schwer haben in ihrem Land, wenn Deutschland nicht mitzieht. Es wäre für ganz Europa wichtig, wenn sich in Deutschland etwas in die richtige Richtung bewegt, wenn das Ziel ausgesprochen wird.
Aber stellen sich die Fragen zu NoCovid überhaupt noch, wenn der Großteil der Bevölkerung geimpft ist?
Schneider: Wenn wir dem Virus freien Lauf geben, während wir impfen, spielen wir mit dem Feuer. Das sind ideale Bedingungen für die Evolution von Virusvarianten, die der Impfung entgehen. Dazu kommt aber, dass nicht alle geimpft werden können oder wollen. Es wird lange dauern, wenn überhaupt, bis wir Herdenimmunität erreicht haben. Und während wir diskutieren, werden die Menschen krank. All das kann man verhindern, wenn man die Infektionszahlen klein hält. Die Impfung würde ich am liebsten als die finale Keule für das Virus unter Bedingungen niedriger Inzidenzen sehen.
Danke für das Gespräch.
- Interview per Videokonferenz
- Initiative NoCovid