Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Astrazeneca-Debatte Man kann den Glauben an die Vernunft des Menschen verlieren
85 Prozent der an Deutschland gelieferten Astrazeneca-Dosen sind noch nicht verimpft. Das Misstrauen weniger Menschen bringt die ganze Impfkampagne ins Stottern.
Da gibt es einen wirksamen Impfstoff gegen das Coronavirus – und viele wollen ihn nicht haben. Man könnte das auch anders übersetzen: Den Menschen wird ein Angebot gemacht, aus dem ermüdenden Lockdown-Zyklus auszubrechen, sich Normalität und Freiheit zurückzuholen, und sie sagen dazu: Nein.
Wenn es nicht so bitter und so folgenreich wäre, man könnte darüber lachen. Aber leider gehört es im Spätwinter 2021 zur Realität, dass bundesweit Impfzentren auf Phiolen des Astrazeneca-Impfstoffs sitzen bleiben, Zehntausende Impftermine nicht wahrgenommen oder abgesagt werden. Man kann den Glauben an die Vernunft des Menschen darüber verlieren.
"Zweitklassiger Impfstoff"?
Die neueste Posse: In Berlin hat der Senat der Polizei angeboten, wegen der niedrigen Nachfrage nach dem Astrazeneca-Stoff jetzt gleich und sofort 12.000 Beamten die Impfung zu ermöglichen. Und was antwortet der Berufsverband "Unabhängige in der Polizei e.V."? Den Beamten solle ein "zweitklassiger Impfstoff" verabreicht werden, der vermutlich in der Belegschaft auf keine große Akzeptanz stoßen werde.
Das deckt sich mit dem Misstrauen anderer Berufsgruppen. Aus dem ganzen Bundesgebiet gibt es Meldungen über abgesagte oder nicht wahrgenommene Impftermine mit dem Astrazeneca-Präparat. Aus Münster etwa wurde in der vergangenen Woche gemeldet, dass 30 Prozent der Rettungsdienstmitarbeiter und ambulanten Pflegerinnen und Pfleger ihre Impftermine nicht wahrnahmen.
Unbegründete Bedenken
Nun ist es verständlich, dass sich ein jeder Gedanken um seine Gesundheit macht und abwägt, was er seinem Körper zuführt und was nicht. Aber die Befürchtungen rund um den Astrazeneca-Stoff sind überwiegend unbegründet.
Erstens: Das Vakzin ist zugelassen, was bedeutet, dass seine Wirksamkeit und Verträglichkeit in klinischen Studien nachgewiesen wurden.
Zweitens: Der Impfstoff hilft. Seine Wirksamkeit erreichte in klinischen Studien zwar nicht die Werte der ebenfalls zugelassenen Präparate von Biontech/Pfizer sowie Moderna. Aber rund 63 Prozent bedeuten keinesfalls, dass sich für ein Drittel der Geimpften nichts ändert – im Gegenteil. Die Erfahrung zeigt, dass alle zugelassenen Impfstoffe schwere Verläufe und Todesfälle verhindern, wie Forscher der Charité festgestellt haben. Komme es trotz Impfung zur Infektion, träten allenfalls noch leichte Symptome auf.
Drittens (und vielleicht am wichtigsten): Der Astrazeneca-Stoff hat sich bewährt. In Großbritannien ist er bereits millionenfach gespritzt worden und hat dazu beigetragen, dass die Impfkampagne dort erfolgreich ist. Erste Datenauswertungen aus Schottland zeigen zudem, dass der Wirkstoff das Risiko eines Klinikaufenthalts wegen Covid-19 um bis zu 94 Prozent reduziert – und das schon nach der ersten Dosis.
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Um es auf den Punkt zu bringen: Medizinisch gibt es kaum einen Grund, das Astrazeneca-Vakzin zu meiden. Man kann nun die wohl geringere Wirksamkeit bei der Südafrika-Variante oder die möglichen Nebenwirkungen wie Abgeschlagenheit, Fieber oder Gliederschmerzen als Argument anführen. Überzeugend ist das nicht. Oder stehen ein paar Tage Unwohlsein wirklich in Relation dazu, für weitere Monate sich und andere der Gefahr einer folgenschweren Ansteckung auszusetzen?
Die Folgen bekommen alle zu spüren
Bereits jetzt hat dieses Verhalten Folgen. Personengruppen mit hohem Ansteckungsrisiko, und dazu gehören klinisches Personal und Polizisten, bleiben länger gefährdet und potenziell gefährlich für andere. Die Impfstrategie wird verzögert und nimmt Schaden – nur 15 Prozent des vorrätigen Astrazeneca-Mittels wurden bislang in Deutschland gespritzt. Dabei ist der Wirkstoff ein Schlüssel dafür, dass in absehbarer Zeit auch in Arztpraxen geimpft werden kann.
Was sagt das aus über unsere Gesellschaft im Spätwinter 2021, wenn wir in dieser historischen Krise unsere Entscheidungen von Nichtigkeiten abhängig machen? Individuelle Befindlichkeiten dem gesellschaftlichen Ziel, die Pandemie zu überwinden, voranstellen?
Weil es so bitter und so folgenreich ist, könnte man darüber fast weinen. Millionen Menschen im Land aber beobachten die Debatte mit Wut und Fassungslosigkeit, während sie selbst noch Monate auf den erlösenden Pieks warten dürfen.